Auszug aus dem Jahresgutachten 1998/99 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

VIERTES KAPITEL

Neue Rahmenbedingungen durch die Europäische Währungsunion

  1. Zur Ausgangslage
  2. Konzeptionelle Anforderungen an die gemeinsame Geldpolitik
  3. Finanzpolitik in der Europäischen Währungsunion
  4. Lohnpolitik in der Europäischen Währungsunion

I. Zur Ausgangslage

Die Entscheidung vom 2. Mai 1998

255. Bei dem Europäischen Gipfel in Brüssel Anfang Mai dieses Jahres entschieden die Staats- und Regierungschefs, daß mit Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal und Spanien elf Länder der Gemeinschaft die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung der gemeinsamen Währung erfüllten und beschlossen den Eintritt in die dritte Stufe der Europäischen Währungsunion zum 1. Januar 1999. Damit stellte der Europäische Rat gemäß einer vorausgegangenen Empfehlung des Rates der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN-Rat) fest, daß alle beitrittswilligen Länder außer Griechenland die im Vertrag von Maastricht niedergelegten Konvergenzkriterien erfüllten. Dänemark und das Vereinigte Königreich hatten gemäß den vertraglichen Regelungen von ihrer Wahlmöglichkeit Gebrauch gemacht, der Währungsunion jetzt nicht beizutreten. Schweden hatte angekündigt, nicht sofort teilnehmen zu wollen, eine Option, die der Vertrag von Maastricht nicht vorsieht, die in formaler Hinsicht aber dadurch möglich wurde, daß dieses Land noch nicht dem Europäischen Währungssystem angehörte und damit das Wechselkurskriterium nicht erfüllte.

256. Gemäß dem im Maastrichter Vertrag festgelegten Verfahren hatten vor dieser Entscheidung die Europäische Kommission und das Europäische Währungsinstitut Konvergenzberichte vorgelegt. Ende April gab der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank eine Stellungnahme zur Konvergenzlage in der Europäischen Union ab, um die er von der Bundesregierung gebeten worden war. In anderen Mitgliedsländern haben die jeweiligen Notenbanken ebenfalls Konvergenzberichte verfaßt und veröffentlicht.

Während Europäische Kommission, Europäisches Währungsinstitut und Bundesbank die monetären Kriterien übereinstimmend als erfüllt ansahen, schätzten sie die finanzpolitische Konvergenzlage unterschiedlich ein. Das Europäische Währungsinstitut drückte im Falle Italiens und Belgiens seine Sorge darüber aus, ob die Finanzlage der öffentlichen Haushalte als dauerhaft tragbar gelten könne; der Schuldenstand war in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt mit über 120 vH auch im Prüfungsjahr (1997) noch immer mehr als doppelt so hoch wie im Vertrag gefordert, zudem hatte sich die Schuldenstandsrelation nach Meinung des Europäischen Währungsinstituts nicht deutlich genug zurückgebildet, um wenigstens insoweit Vertragskonformität zu erreichen (Tabelle 67). Die Deutsche Bundesbank äußerte selbst bei Berücksichtigung der weiteren Haushaltsplanungen gravierende Zweifel an einer dauerhaft tragbaren Finanzlage in diesen Ländern. Aber auch im Falle Deutschlands, Frankreichs, der Niederlande, Österreichs, Portugals und Spaniens urteilten das Europäische Währungsinstitut wie auch die Bundesbank, daß noch erhebliche weitere Konsolidierungsfortschritte, insbesondere eine Rückführung der Ausgabenquoten, etwa durch Reformen bei den Sozialversicherungssystemen, notwendig seien. Bis auf Finnland, Frankreich und Luxemburg wiesen im Referenzjahr alle beitrittswilligen Mitgliedstaaten einen Schuldenstand in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt von mehr als 60 vH aus. Während sich das Europäische Währungsinstitut seinem vertraglichen Auftrag gemäß einer Stellungnahme darüber enthielt, ob es den Konvergenzprozeß als ausreichend für den Beginn der Währungsunion erachtete, kam die Bundesbank trotz ihrer ernsten Bedenken zu dem Schluß, daß ein Eintritt in die Währungsunion ab dem Jahre 1999 stabilitätspolitisch vertretbar sei, wenn auch mit der Einschränkung, daß Belgien und Italien weitere substantielle Konsolidierungsverpflichtungen eingehen müßten.

Tabelle 67 nicht eingebunden

Anders als das Europäische Währungsinstitut hatte die Europäische Kommission nach dem Maastricht-Vertrag das Recht, dem ECOFIN-Rat gegenüber Empfehlungen darüber auszusprechen, ob ein Land die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung der einheitlichen Währung erfüllte (Artikel 121 Abs. 2 EGV). Die Europäische Kommission bescheinigte den Ländern eine eindeutige Abkehr vom bedenklichen Haushaltsgebaren der Vergangenheit und beurteilte die Nachhaltigkeit der Konsolidierungsanstrengungen deutlich besser, als es in den Berichten des Europäischen Währungsinstituts und der Bundesbank zum Ausdruck kam. Den Umfang, in dem Einmalmaßnahmen im Jahre 1997 zum Abbau der Defizite beigetragen hatten, schätzte die Europäische Kommission im Vergleich zu den gesamten Konsolidierungsanstrengungen als gering ein (JG 97 Kasten 8). Entsprechend empfahl sie dem ECOFIN-Rat, die noch bestehenden Entscheidungen über das Vorliegen eines übermäßigen Defizits aufzuheben; dies betraf neben Belgien und Italien auch Deutschland, Frankreich, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien. Der ECOFIN-Rat verfuhr sodann gemäß dieser Empfehlung.

257. Während der Gründungsbeschluß zur Europäischen Währungsunion von einem breiten Konsens zwischen den Staats- und Regierungschefs getragen worden war, ergab sich ein Konflikt in einer entscheidenden Personalfrage, die der Ernennung des ersten Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Der Staatspräsident Frankreichs beharrte auf einem eigenen Bewerber (dem Gouverneur der Banque de France), obwohl die anderen Regierungschefs den amtierenden Präsidenten des Europäischen Währungsinstituts favorisierten. Nach langen und zähen Verhandlungen wurde ein Kompromiß dahingehend gefunden, daß der Präsident des Europäischen Währungsinstituts Präsident der Europäischen Zentralbank wird, allerdings verbunden mit der Erwartung, daß dieser seine achtjährige Amtszeit verkürzt (etwa auf die Hälfte) und danach ein von Frankreich vorgeschlagener Kandidat diese Position besetzt. Bedenklich an diesem Streit ist, daß er die Unabhängigkeit der Zentralbank von politischer Einflußnahme schon bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ins Zwielicht gerückt hat.

258. Der ECOFIN-Rat kündigte an, daß bei der Festlegung der Umstellungskurse der nationalen Währungen zum Euro die bestehenden bilateralen Leitkurse der Währungen im Rahmen des Europäischen Wechselkursmechanismus angewendet werden, ein Verfahren, für das sich auch der Sachverständigenrat ausgesprochen hatte (JG 97 Ziffer 397).

Im Juni dieses Jahres wurden die Europäische Zentralbank und das System der Europäischen Zentralbanken errichtet. Die ersten Entscheidungen des Europäischen Zentralbankrates betrafen neben der Aufteilung der Geschäftsbereiche innerhalb des Direktoriums und weiterer Personal- und Geschäftsordnungsangelegenheiten sowie der Festlegung der Kapitalanteile der nationalen Notenbanken bereits erste Felder der operativen Geldpolitik wie die Ausgestaltung der geldpolitischen Instrumente sowie die Festlegung der geldpolitischen Strategie (Ziffern 281 ff.).

 

Zu den Änderungen, die die Einführung des Euro in Deutschland mit sich bringen wird, zählt auch die Zulassung von indexierten Wertpapieren. In diesem Zusammenhang ist in jüngster Zeit viel die Frage diskutiert worden, ob Staatsanleihen wertgesichert sein sollten. Dadurch würde eine bestimmte Realverzinsung garantiert. In Deutschland waren bisher Indexklauseln aller Art, und damit auch solche in Kapitalschuldverhältnissen, grundsätzlich genehmigungspflichtig (gemäß § 3 Währungsgesetz). Mittlerweile steht fest, daß die deutsche Regelung europaweit nicht konsensfähig ist. Mit dem Euro-Einführungsgesetz wurde das Indexierungsverbot für den Geld- und Kapitalverkehr aufgehoben. Hätte man hierzulande auf der alten Regelung bestanden, so würde dies Kapitalanleger, die Inflationsänderungsrisiken möglichst klein halten wollen, ermuntern, auf andere Märkte innerhalb und außerhalb des Euro-Währungsraums auszuweichen. Benachteiligt würde letztlich der deutsche Fiskus: Er müßte höhere Zinsen für seine Neuemissionen bieten und damit höhere Haushaltsbelastungen in Kauf nehmen. So gesehen ist es richtig, daß für den Geld- und Kapitalverkehr dieses Verbot aufgehoben worden ist.

259. Während die Konvergenz bei den langfristigen Zinssätzen im Referenzjahr weitgehend erfüllt war, gab es im Jahre 1998 bei den kurzfristigen Zinsen noch stärkere Unterschiede zwischen den designierten Teilnehmerländern der Währungsunion. So hatte die irische Zentralbank, deren Satz für Notenbankkredite zu Jahresbeginn um mehr als drei Prozentpunkte über dem Wertpapierpensionssatz der Deutschen Bundesbank lag, Anfang Mai den Refinanzierungssatz sogar zunächst noch einmal erhöht, um konjunkturellen Überhitzungserscheinungen vorzubeugen. Auch in Ländern, in denen bereits seit längerem Leitzinssenkungen vorgenommen wurden - wie in Italien, Portugal und Spanien -, waren die Notenbankzinsen bis in den Herbst hinein noch teilweise deutlich höher als in Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Österreich. Während an den Kapitalmärkten im Vorfeld der Währungsunion im wesentlichen nur noch Bonitätsunterschiede zwischen Emittenten für Zinsdifferenzen sorgen können, sind für die Bestimmung der kurzfristigen Zinssätze zu einem Großteil die Refinanzierungssätze der Zentralbanken maßgeblich. Die Notenbankzinsen sind bisher mit Rücksicht auf die divergierenden Konjunkturentwicklungen in den Teilnehmerländern noch nicht vereinheitlicht worden: So sind etwa Irland und Spanien im Konjunkturzyklus bereits weiter vorangeschritten, was den Zentralbanken dort eine raschere Reduktion ihrer Refinanzierungssätze erschwerte.

260. Die Europäische Zentralbank steht in der Anfangsphase der Währungsunion bei der Ausgestaltung der operativen Geldpolitik insbesondere vor zwei großen Herausforderungen: Zum einen werden in der Europäischen Währungsunion Teilnehmerländer mit unterschiedlichen Produktionsstrukturen, Finanzsektoren, Steuersystemen, Staatsquoten und Marktregulierungen zu einem Währungsgebiet zusammengefügt. Je nach dem wie deutlich diese Unterschiede ausgeprägt sind, können sich Zinsänderungen der Europäischen Zentralbank in unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit auf die ökonomische Aktivität in den Ländern der Währungsunion auswirken (Ziffern 261 ff.).

Zum anderen läßt sich die Geldpolitik in einem einheitlichen Währungsraum nicht regional differenzieren. Die Europäische Zentralbank kann nur einen für das gesamte Währungsgebiet einheitlichen Zinssatz für die Bereitstellung von Zentralbankgeld wählen; andernfalls würden Abweichungen in den Zinsniveaus durch die bei freiem Kapitalverkehr sofort einsetzenden Arbitragetransaktionen eingeebnet werden. Unterschiedlichen Konjunkturlagen in verschiedenen Teilgebieten der Währungsunion kann und soll die Zentralbank daher nicht Rechnung tragen. Es ergeben sich in den Mitgliedstaaten mehr oder weniger starke Anpassungserfordernisse für die übrigen Politikbereiche, je nachdem, wie synchron die Konjunkturzyklen verlaufen (Ziffern 266 ff.).

Transmissionskanäle der gemeinsamen Geldpolitik

261. Als unmittelbares Instrument der Geldpolitik steht der Europäischen Zentralbank der Zinssatz für die Vergabe von Zentralbankgeldkrediten zur Verfügung, hinter dem andere mögliche Instrumente wie etwa Devisenmarktinterventionen oder die Veränderung der Mindestreservesätze weit zurückstehen werden (Kasten 6, Seite 294). Zinspolitische Maßnahmen haben eine Vielfalt von Wirkungen im Finanzsektor wie auch kurzfristig realwirtschaftliche Anpassungen zur Folge. Diese Wirkungen einer Zinsänderung in einer Volkswirtschaft - die Transmission des geldpolitischen Impulses - sind sehr komplex. Trotz intensiver theoretischer Forschung und zahlreicher empirischer Untersuchungen auf diesem Gebiet sind die Übertragungsmechanismen der Geldpolitik noch nicht ausreichend geklärt. Wenngleich grundsätzlich verschiedene Wirkungskanäle bekannt sind, so ist es dennoch eine schwierige Aufgabe, die jeweilige Bedeutung einzelner Wirkungsweisen zuverlässig zu ermitteln. Unter diesem Vorbehalt stehen auch unsere folgenden Überlegungen zu den drei herkömmlichen Wirkungskanälen: dem Zinsmechanismus, dem Kreditmechanismus und dem Wechselkursmechanismus.

262. Beim Zinsmechanismus bewirkt eine Anhebung des Refinanzierungszinssatzes durch die Zentralbank eine Erhöhung der Kapitalmarktzinsen und führt so zu einem Anstieg der Kapitalkosten, was die Investitionstätigkeit dämpfen kann, je nach Abhängigkeit der Zinselastizität der Investitionen. Bei einer Leitzinssenkung gilt im Prinzip das Umgekehrte. Je höher die Bedeutung der Investitionstätigkeit in einem Land ausfällt, um so stärker könnten Zinsänderungen auf die gesamtwirtschaftliche Aktivität durchwirken.

Betrachtet man die künftigen Teilnehmerländer an der Europäischen Währungsunion nach der unterschiedlichen Bedeutung der Investitionsnachfrage, so zeigt sich, daß die Anteile am Bruttoinlandsprodukt mit einer Bandbreite von knapp 17 vH bis 26 vH deutlich differieren (Tabelle 68). Ein relativ hohes Gewicht besaß sie im Jahre 1997 in Österreich und Portugal, wo Zinsimpulse, bei gegebener Zinselastizität der Investitionstätigkeit, eine entsprechend stärkere Wirkung auf die gesamtwirtschaftliche Aktivität als in anderen Ländern entfalten könnten.

Tabelle 68 nicht eingebunden

Von der Entstehungsseite des Bruttoinlandsprodukts und unter Vernachlässigung der Handelsbeziehungen zu Ländern außerhalb der Währungsunion betrachtet, dürften Zinsänderungen insbesondere in solchen Regionen reale Effekte haben, deren Wertschöpfung in hohem Maße durch die Produktion von Investitionsgütern und von Vorleistungsgütern - zusammen näherungsweise abgebildet durch

den Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung - sowie von der Bauproduktion geprägt ist. Vergleicht man die Entstehungsseite des Bruttoinlandsprodukts in den Euro-Teilnehmerländern, so sind teilweise beachtliche Strukturunterschiede festzustellen. Der Anteil der Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt reicht von 15,4 vH (Luxemburg) bis 23,4 vH (Deutschland), unter Ausklammerung von Luxemburg verringert sich diese Spanne jedoch erheblich auf nur noch 5,6 Prozentpunkte. Der Anteil des Baugewerbes schwankt zwischen 4,3 vH in Frankreich und 7,8 vH in Spanien.

In dieser Strukturbetrachtung weisen insbesondere Deutschland, Österreich, Portugal und Spanien einen etwas höheren Anteil zinssensitiver Komponenten an der gesamtwirtschaftlichen Aktivität auf, was tendenziell für eine höhere Bedeutung des Zinskanals in diesen Ländern spricht. Die Unterschiede in der Produktionsstruktur der Teilnehmerstaaten sind jedoch insgesamt nicht sehr stark ausgeprägt. Aus solchen realwirtschaftlichen Strukturunterschieden lassen sich daher in einer Länderbetrachtung kaum geldpolitisch relevante Unterschiede ausmachen.

Auch das staatliche Nachfrageverhalten kann Reaktionen auf Zinsänderungen aufweisen. Steigt das Zinsniveau und sind die Neuverschuldungsmöglichkeiten begrenzt, dann muß ein erhöhter Schuldendienst durch Umschichtungen der Ausgaben im Staatshaushalt finanziert werden, insoweit Steuererhöhungen nicht in Betracht kommen. Die Erfahrung zeigt, daß solche kurzfristigen Umschichtungen meistens zu Lasten der öffentlichen Investitionsausgaben gehen. Die Wirkungen einer Zinserhöhung durch die Zentralbank treffen die öffentlichen Haushalte dabei um so stärker, je kurzfristiger die Staatsschuld finanziert ist. Gegebenenfalls können kontraktive Nachfrageeffekte abgeschwächt werden, wenn die Staatsschuldtitel zu einem großen Teil von inländischen Gläubigern gehalten werden, den erhöhten Zinszahlungen des Staates also eine Einkommenssteigerung der privaten Haushalte gegenübersteht. Die unmittelbaren Wirkungen der Geldpolitik auf die staatliche Nachfrage hängen demnach von der Höhe des Schuldenstandes ab und damit davon, ob die Finanzlage in den einzelnen Ländern auf Dauer tragbar ist.

In Bezug auf die Höhe der Staatsschuld - bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt - stechen Belgien und Italien in der Gruppe der Euro-Teilnehmerländer hervor. Dies spiegelt sich auch in der Relation der Zinszahlungen zum Bruttoinlandsprodukt wider, die in Belgien (7,9 vH) und Italien (9,5 vH) mehr als doppelt so hoch ist als im Durchschnitt der übrigen Länder. Hinzu kommt im Falle Italiens, daß dort mit fast 50 vH ein außergewöhnlich großer Anteil der Staatsschuld kurzfristig finanziert ist, was das Durchwirken von Zinsänderungen beschleunigt. Relativ hoch liegen diese Anteile auch in Portugal (33,1 vH), in Spanien (30,6 vH) und in Frankreich (29,4 vH).

263. Während der Zinsmechanismus auf die Reaktion der Kapitalnachfrager abstellt, liegt das Schwergewicht des Kreditmechanismus auf dem Kreditangebotsverhalten, also der Reaktion insbesondere der Geschäftsbanken auf Zinsschritte der Notenbank. Hiernach reduzieren die Banken bei einer Verschärfung der Zinsbedingungen ihr Kreditangebot aus zwei Gründen: Zum einen steigt bei höheren Zinsen erfahrungsgemäß der Anteil stärker risikobehafteter Kredite (sogenannter Bankkreditkanal). Zum anderen gewähren die Banken weniger Kredite, weil bei einem zinsbedingten Preisverfall von Wertpapieren oder gegebenenfalls auch von Immobilienpreisen die Verfügbarkeit von refinanzierungsfähigen Sicherheiten abnimmt; somit verschlechtert sich bei starken Vermögensverlusten die Bonität der Kreditnehmer (sogenannter Bilanzkanal). Soweit die Kreditnehmer auf Bankkredite angewiesen sind und nicht auf andere Kapitalquellen, etwa verbriefte Formen der Kapitalaufnahme, zurückgreifen können, wird bei einer Einschränkung ihrer Verschuldungsmöglichkeiten die ökonomische Aktivität gebremst. Im allgemeinen wird der Kreditmechanismus jedoch als vergleichsweise schwacher und langfristiger Übertragungsweg geldpolitischer Impulse angesehen.

Die tatsächliche Bedeutung des Kreditkanals hängt von dem Stellenwert ab, den die Bankkreditvergabe an den privaten Sektor gegenüber der direkten Finanzierung am Kapitalmarkt (Verbriefung) in den einzelnen Volkswirtschaften hat. Aus der von der Europäischen Kommission erstellten Datenbank für harmonisierte Unternehmensbilanzstatistiken (BACH) ergibt sich, daß in den meisten Ländern der Europäischen Währungsunion der Bankkredit einen Anteil von rund einem Drittel an den gesamten Unternehmensverbindlichkeiten aufweist. Gewichtige Ausnahmen stellen Deutschland (20,7 vH) und Frankreich (13,0 vH) dar; insbesondere in Frankreich ist die Verbriefung von Finanzbeziehungen der Unternehmen weit vorangeschritten. Dies spricht für die Vermutung, daß geldpolitische Impulse in diesen beiden Ländern etwas schneller auf die Realwirtschaft übertragen werden als in Italien, Portugal oder Spanien. Bezieht man auch die Fristigkeit der Kreditbeziehungen ein, so muß dieses Urteil - insbesondere für Italien – jedoch relativiert werden, da hier der Anteil kurzfristiger Bankkredite vergleichsweise hoch ist, möglicherweise Reflex einer Praxis in der Vergangenheit, als die Preissteigerungsraten noch kräftig waren.

264. Den dritten wichtigen Transmissionskanal, den Wechselkursmechanismus, hat man sich wie folgt vorzustellen: Eine Zinserhöhung bewirkt bei flexiblen Wechselkursen eine nominale Aufwertung der Inlandswährung, was bei zunächst konstantem Preisniveau sowie gegebenen ausländischen Zinsen auch einen höheren realen Außenwert bedeutet. Zwar wirken Anpassungskräfte langfristig wieder auf eine Gegenbewegung des realen Wechselkurses hin, zunächst werden jedoch die Exportproduktion und die mit Importen konkurrierende Inlandsproduktion beeinträchtigt und damit für sich genommen die gesamte realwirtschaftliche Aktivität gedämpft. Für die Euro-Teilnehmerländer, die schon jetzt einen sehr großen Teil ihres Außenhandels untereinander betreiben, wird mit der Einführung der gemeinsamen Währung der Wechselkursmechanismus insoweit außer Kraft gesetzt. Die Bedeutung dieses Transmissionskanals hängt dann mit dem Offenheitsgrad der einzelnen Länder gegenüber anderen Währungsgebieten zusammen. Danach können insbesondere in kleineren Volkswirtschaften wie den Niederlanden (Exportanteil gegenüber Drittstaaten 19,4 vH) oder Finnland (24,0 vH) sowie Belgien (25,3 vH) und insbesondere Irland (40,2 vH) zinspolitisch induzierte Änderungen des Euro-Wechselkurses überdurchschnittliche Auswirkungen auf die inländische Wirtschaftsaktivität haben. Für Frankreich, Italien, Portugal und Spanien wird dieser Transmissionsweg aufgrund ihres relativ geringen Außenhandels mit Drittländern dagegen nur eine kleine Rolle spielen. Deutschland befindet sich mit einer Außenhandelsverflechtung von 14,1 vH in der Mitte des Spektrums.

265. Insgesamt ist aus der Betrachtung von Strukturmerkmalen allein kein sicheres Urteil über das Zusammenwirken aller Effekte und damit über die Auswirkungen der einheitlichen Geldpolitik auf die reale Aktivität in den Teilnehmerstaaten zu fällen. Zwar bestehen Unterschiede in der Zusammensetzung der realen Sektoren sowie in den Finanzierungsstrukturen der Länder. Diese Differenzen scheinen jedoch verkraftbar, insbesondere da in den meisten Ländern sowohl transmissionsverstärkende als auch transmissionsmindernde Einflüsse vorliegen. Konkrete Hinweise auf die Gesamtwirkung geben ökonometrische Untersuchungen, in denen versucht wird, den Effekt von Zinsänderungen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in verschiedenen europäischen Ländern zu modellieren. Die Ergebnisse dieser Studien deuten ebenfalls darauf hin, daß gravierende Wirkungsunterschiede der Geldpolitik in den Ländern der Europäischen Währungsunion nicht feststellbar sind. Zinspolitische Impulse der Europäischen Zentralbank haben hiernach in allen Ländern gleichgerichtete Effekte auf die wirtschaftliche Aktivität; deren Dauer und Intensität sind überall ähnlich. Allerdings sind die Resultate dieser Forschungsrichtung nicht eindeutig.

Die bisher durchgeführten empirischen Studien zu den Transmissionswirkungen geldpolitischer Impulse unterscheiden sich insbesondere durch den verwendeten ökonometrischen Ansatz sowie in Bezug auf den untersuchten Zeitraum. Häufig werden dabei die Wirkungen zinspolitischer Maßnahmen mittels Impuls-Antwort-Folgen im Rahmen vektorautoregressiver Modelle abgebildet. Ein solches Vorgehen kann allerdings gravierende methodische Probleme aufwerfen, wenn die Langfristbeziehungen zwischen den überwiegend integrierten Variablen nicht angemessen berücksichtigt werden. Vielversprechendere Ansätze hingegen stellen Fehlerkorrektur-Modelle dar, bei denen jedoch für jedes Land stabile Langfristbeziehungen gefunden werden müssen.

Unter den genannten methodischen Vorbehalten lassen sich bei den empirischen Untersuchungen die deutlichsten Abweichungen in den Transmissionsmechanismen für die spanische und die portugiesische Volkswirtschaft feststellen. In beiden Ländern hatten Zinsimpulse in der Vergangenheit die geringsten realwirtschaftlichen Auswirkungen. Eine Erklärung hierfür bieten jedoch weniger Strukturmerkmale des Finanzsektors als vielmehr die unterschiedlichen Volatilitäten der nominalen Zinsen in der Vergangenheit. Eine Zinserhöhung um einen Prozentpunkt setzte bisher in Spanien oder Portugal kein so deutliches zinspolitisches Signal wie in Ländern mit geringerer Zinsvolatilität und einem vergleichsweise stabilen Preisniveau, zum Beispiel den Niederlanden oder Belgien. Es ist allerdings davon auszugehen, daß mit der Einführung der gemeinsamen Währung die Unterschiede in den Zinsvolatilitäten in dem Maß verschwinden, wie sich die Inflationserwartungen in den einstigen Hochinflationsländern denen der anderen Länder anpassen. Leicht überdurchschnittliche Zinswirkungen wurden dagegen teilweise für Belgien, Finnland und die Niederlande ermittelt, möglicherweise hervorgerufen durch eine relativ hohe Außenverflechtung dieser Länder mit Drittstaaten. Deutschland und Frankreich weisen in allen empirischen Arbeiten bezüglich der Stärke und der Dauer einer Reaktion des realen Bruttoinandsprodukts auf eine Zinsänderung sehr ähnliche Ergebnisse auf, die etwa in der Mitte des Spektrums der Teilnehmerländer liegen. Unklar sind die Transmissionswirkungen insbesondere in Italien: Während einige Studien hier insbesondere aufgrund kurzfristiger Finanzierungsstrukturen deutlichere realwirtschaftliche Auswirkungen geldpolitischer Impulse ermitteln, kommen andere Untersuchungen zu ähnlichen Resultaten wie für Frankreich oder Deutschland. Insgesamt gesehen bewegen sich jedoch die für das Euro-Währungsgebiet festgestellten Wirkungsunterschiede der Geldpolitik in Größenordnungen, wie sie auch für einen anderen großen Währungsraum (Vereinigte Staaten) festgestellt wurden.

Kenntnisse über regionale Besonderheiten des Transmissionsprozesses sind dann wichtig, wenn die Zentralbank etwa im Rahmen einer Preisprognose regionale Preisniveauentwicklungen analysieren will. Die Europäische Zentralbank muß bei ihrer Tätigkeit versuchen, eine möglichst breite Informationsbasis für die Wirkungen ihrer Zinspolitik zu erlangen. Sie wird Zinsschritte jedoch nicht auf Besonderheiten einzelner Länder abstimmen können; bei allen geldpolitischen Entscheidungen ist so etwas wie ein "durchschnittlicher europäischer Transmissionsprozeß" maßgeblich.

Konjunkturverbund und realwirtschaftliche Konvergenz

266. Im Hinblick auf die Entscheidung über den Beginn der Europäischen Währungsunion stand die fiskalische und monetäre Konvergenz im Sinne des Maastrichter Vertrags im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Weit weniger stark wurde dagegen die realwirtschaftliche Konvergenz der Volkswirtschaften in der Europäischen Währungsunion erörtert, auf die es für die Funktionstüchtigkeit des gemeinsamen Geldwesens ebenfalls entscheidend ankommt (JG 95 Ziffern 443 ff.). Dabei ist das Augenmerk insbesondere auf den Grad an Gleichmäßigkeit des volkswirtschaftlichen Entwicklungsstands und seiner Veränderung in der Zeit zu richten. Es stellt sich zum einen die Frage, inwieweit bereits ein Konjunkturverbund innerhalb der zukünftigen Europäischen Währungsunion existiert und ob es Hinweise darauf gibt, daß sich dieser in letzter Zeit gefestigt hat. Zum anderen ist zu prüfen, ob und mit welcher Geschwindigkeit sich die realen Pro-Kopf-Einkommen innerhalb der Währungsunion annähern, ob also realwirtschaftliche Konvergenz vorliegt.

267. Der folgenden Analyse des Konjunkturverbunds liegen saisonbereinigte Quartalsdaten der OECD für Westdeutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Spanien zugrunde. Diese Länderauswahl ist in Ermangelung adäquater Quartalsdaten anderer Länder notwendig und vor dem Hintergrund, daß die gesamtwirtschaftliche Produktion dieser fünf Länder im Jahre 1997 zusammen über 85 vH des Bruttoinlandsprodukts des zukünftigen Euro-Währungsraums ausmachte, durchaus vertretbar.

Zur Abgrenzung konjunktureller Zyklen verwendet der Sachverständigenrat im allgemeinen den Auslastungsgrad des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials. Für einen länderübergreifenden Vergleich ist dieses Verfahren allerdings kaum geeignet, weil die in der Konzeption des Rates besonders bedeutsame Schätzung potentieller Kapitalproduktivitäten (Anhang IV, Abschnitt A) für andere Volkswirtschaften schon allein wegen der Datenlage mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Deshalb erscheint es in diesem Kontext angebracht, die Konjunktur als die Abweichung des realen Bruttoinlandsprodukts von seiner trendmäßigen Entwicklung zu definieren. Die bei diesem recht allgemeinen Ansatz notwendige Trendbestimmung kann mit Hilfe verschiedener Verfahren vorgenommen werden. Weite Verbreitung in der Fachliteratur hat dabei der Hodrick-Prescott-Filter gefunden, der auch hier zum Einsatz kommt (Schaubild 29).

Der Hodrick-Prescott-Filter (HP-Filter) zerlegt eine Zeitreihe für das Bruttoinlandsprodukt additiv in eine Wachstumskomponente und in eine Konjunkturkomponente. Bei langen Zeitreihen wäre die Annahme eines starren, linearen Trends schwerlich zu rechtfertigen. Der HP-Filter läßt daher eine zeitveränderliche Wachstumskomponente zu, bei der jedoch abrupte Schwankungen ausgeschlossen werden. Die "Glattheit" der Trendfunktion wird über einen Glättungsparameter gesteuert, der hier - wie bei Quartalsdaten üblich - auf den Wert 1 600 gesetzt wurde. Bei logarithmierten Daten kann die Konjunkturkomponente als relative Abweichung des tatsächlichen Bruttoinlandsprodukts von der trendmäßigen Normalauslastung verstanden werden (Output-Lücke). Sofern die Analyse vor Ablauf eines vollen Konjunkturzyklus endet, unterschätzt der HP-Filter am aktuellen Rand den trendmäßigen Wachstumspfad und überschätzt somit die Output-Lücke. Man kann diesem Problem dadurch begegnen, daß man zumindest für die folgenden Quartale Prognosewerte einsetzt. Da alle hier betrachteten Länder am aktuellen Rand der Untersuchung durch eine aufwärtsgerichtete Konjunktur gekennzeichnet sind und im Mittelpunkt des Interesses nicht die Größe der Output-Lücke, sondern das Verhältnis der Konjunkturverläufe zueinander steht, wurde auf das Einsetzen von Prognosen für Quartalswerte verzichtet. Dies und die Verwendung von Quartalsdaten erklärt die Unterschiede, die sich in der Einschätzung der aktuellen Konjunktursituation nach dem HP-Filter und nach der am Produktionspotential orientierten Methode ergeben.

Im großen und ganzen läßt sich über den gesamten Untersuchungszeitraum ein ähnlicher Konjunkturverlauf in den betrachteten Ländern ausmachen, wenngleich es in manchen Zeiträumen einige Unterschiede gibt.

268. Um die Stärke des kontemporären konjunkturellen Gleichlaufs zwischen den betrachteten Ländern zu beurteilen, lassen sich die Korrelationen zwischen den Konjunkturvariablen heranziehen (Tabelle 69). Einfache Korrelationskoeffizienten, die lediglich die zeitgleiche Korrelation abbilden, geben nur unvollständig Aufschluß über die konjunkturellen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Ländern; die über mehrere Perioden sich erstreckenden Zusammenhänge werden so nicht erfaßt. Für die Beurteilung des Konjunkturverbunds sind aber gerade diese dynamischen Beziehungen, insbesondere der Vorlauf oder Nachlauf einzelner Volkswirtschaften von Interesse. Hierzu ist die Berechnung von Kreuzkorrelationen hilfreich: Starke Kreuzkorrelationen zwischen dem Konjunkturverlauf eines Landes mit dem um mehrere Perioden verzögerten Verlauf eines anderen Landes deuten auf einen Vorlauf des zweiten Landes hin (Schaubild 30). Betrachtet man beispielsweise das Verhältnis der deutschen und französischen Konjunktur, so kann man an dem deutlichen Höhepunkt der Kurve für die siebziger Jahre erkennen, daß es einen starken Zusammenhang zwischen den Konjunkturen gegeben hat. Daß der höchste Punkt dieser Kurve ein Quartal rechts der Mitte liegt, deutet darauf hin, daß die deutsche Konjunktur etwa ein Quartal vorlief. Der ausgeprägte Arm auf der linken Seite der Kurve für die neunziger Jahre zeigt an, daß nunmehr eher die französische Konjunktur vorläuft. Diesmag unter anderem darauf zurückzuführen sein, daß in Deutschland wegen der vereinigungsbedingten Sonderkonjunktur die Rezession verzögert eintrat. Das Fehlen großer Werte für die Korrelationen in den achtziger Jahren deutet auch auf das Fehlen ausgeprägter Konjunkturzyklen in diesem Zeitraum hin.

Tabelle 69 nicht eingebunden

269. In den siebziger Jahren sind die Konjunkturverläufe deutlich ausgeprägt und von einem recht starken Konjunkturverbund innerhalb Europas bestimmt. Beides ist sicherlich zum Großteil auf die dem ersten Ölpreisschock folgende scharfe Rezession zurückzuführen, bei der allenthalben die Produktion tief einbrach. Auch die sich anschließende konjunkturelle Erholung verlief weitgehend synchron. Vor allem der Konjunkturverbund zwischen Deutschland, Frankreich und Italien war in den siebziger Jahren stark ausgeprägt, wobei Italien und Frankreich sehr synchron liefen, während die deutsche Konjunktur etwa zwei Quartale diesen beiden Ländern vorauseilte. Die spanische Konjunktur lief mit drei bis vier Quartalen Verzögerung der deutschen und mit etwa zwei Quartalen gegenüber der französischen Konjunktur nach. Dies führte dazu, daß die kontemporären Korrelationen zwischen Spanien und Deutschland beziehungsweise Spanien und Frankreich vergleichsweise schwach ausgeprägt waren.

270. In den achtziger Jahren waren die Aufschwungs- und Rezessionsphasen in den einzelnen Ländern nur sehr schwach ausgeprägt. Die Rezession 1986/87 hat zwar die Niederlande stark getroffen, in Deutschland und Frankreich war sie jedoch weniger zu spüren, an Spanien und Italien ist sie sogar spurlos vorbeigezogen. Mit dem undeutlich ausgeprägten Konjunkturmuster korrespondieren auch die schwachen Korrelationen zwischen den Konjunkturverläufen und die Tatsache, daß sich keine deutlichen Muster im Vorlauf oder Nachlauf ausmachen lassen. Die schwache Korrelation zwischen der deutschen und französischen Konjunktur findet ihre Erklärung auch darin, daß Frankreich zu Beginn der achtziger Jahre unter der sozialistischen Regierung eine sehr expansive Konjunkturpolitik betrieben hatte (JG 81 Ziffer 310), während in Deutschland eine auf quantitative Konsolidierung angelegte Finanzpolitik eingeleitet worden war (SG 82 Ziffern 56 f.).

271. In den neunziger Jahren waren die konjunkturellen Muster in den betrachteten Ländern wieder stärker ausgeprägt, wozu insbesondere die Rezession des Jahres 1993 beigetragen hat. Unterstützt durch die Vollendung des europäischen Binnenmarktes und durch den Beginn des monetären Integrationsprozesses in der Europäischen Union führte dies auch wieder zu einem stärkeren Konjunkturverbund zwischen den Ländern, wobei allerdings die Zunahme der Korrelationskoeffizienten zwischen Deutschland und den anderen Ländern aufgrund der sehr markanten vereinigungsbedingten Sonderkonjunktur etwas schwächer ausfällt. Bei der Betrachtung der zeitlichen Struktur fällt auf, daß nicht nur die kontemporäre Korrelation zugenommen hat - zu erkennen am größeren Korrelationskoeffizienten -, sondern daß auch die Asynchronität abgenommen hat, und zwar in dem Sinne, daß es - anders als in den siebziger Jahren - keine zeitlichen Verzögerungen im Konjunkturverbund gibt: Die Korrelation zwischen den verzögerten Konjunkturverläufen ist stets geringer als die zwischen den zeitlich nicht verschobenen. Eine Ausnahme in diesem Kontext stellt Deutschland dar: Das Bild ist aufgrund der Sonderkonjunktur des Jahres 1991 ein wenig versetzt, die deutsche Konjunktur lief deshalb der der anderen Länder etwas nach.

272. Insgesamt läßt sich jedoch sagen, daß die Synchronität zwischen den Konjunkturverläufen der betrachteten Länder zugenommen hat. Dies zeigt sich zum einen darin, daß - anders als in den siebziger Jahren - kein Land den anderen deutlich vor- oder nachläuft, zum anderen darin, daß die kontemporären Korrelationen stärker ausgeprägt sind als in den achtziger Jahren. Von daher spricht nichts gegen die Vermutung, daß sich der Konjunkturverbund zwischen den Ländern zunehmend festigen wird. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wird insoweit nicht durch im Währungsraum divergierende konjunkturelle Entwicklungen gestört werden.

273. Aus einem zunehmenden Gleichlauf der Konjunktur allein kann noch nicht auf eine realwirtschaftliche Konvergenz geschlossen werden. Diese bezieht sich auf die Angleichung der langfristigen Niveaus der Wirtschaftsleistung, nicht jedoch auf deren kurzfristige Schwankungen. Deswegen wird im folgenden untersucht, ob die Werte des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf der Länder des zukünftigen Euro-Währungsraums konvergieren. In wirtschaftswissenschaftlichen Studien haben sich zwei eng miteinander verbundene Konvergenzkonzepte weitgehend durchgesetzt.

Bei dem ersten Konzept - der sogenannten absoluten oder unbedingten b -Konvergenz - geht es um die Frage, ob Länder, die von einem unterdurchschnittlichen Einkommensniveau starten, tendenziell eine höhere Wachstumsrate aufweisen. Um auf eine relative Angleichung abzustellen, werden hierbei üblicherweise die logarithmierten Niveaus der gesamtwirtschaftlichen Produktion pro Kopf und deren Wachstumsraten zueinander ins Verhältnis gesetzt. Für den zukünftigen Euro-Währungsraum ist ein deutlicher negativer Zusammenhang zwischen dem realen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf des Jahres 1960 und der durchschnittlichen Wachstumsrate im Zeitraum 1960 bis 1997 zu erkennen (Schaubild 31).

Dieser Zusammenhang läßt sich auch im Rahmen eines einfachen Regressionsmodells, einer sogenannten Barro-Regression, untersuchen. Dazu wurden die Wachstumsraten der zehn Teilnehmerländer ohne Luxemburg auf die logarithmierten Werte des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf des Jahres 1960 regressiert. Unter dem Vorbehalt der geringen Anzahl der Beobachtungen ergibt sich aus dieser Regression eine mittlere Konvergenzgeschwindigkeit von rund 1 vH pro Jahr, das heißt, daß sich der relative Abstand zwischen einem armen und einem reichen Land um rund 1 vH pro Jahr vermindert, oder anders ausgedrückt: Es dauert etwa 70 Jahre, um den relativen Abstand zwischen zwei Ländern zu halbieren. Solche Ergebnisse sind allerdings vorsichtig zu interpretieren, da hier keine Determinanten des Wachstumsprozesses berücksichtigt wurden. Modelle, in denen untersucht wird, welche Faktoren das Wachstum der einzelnen Volkswirtschaften beeinflussen (bedingte b -Konvergenz), bilden den Konvergenzprozeß anders ab: Konvergenz ist dann eher als Annäherung an ein langfristiges länderspezifisches Wachstumsgleichgewicht und weniger als eine Angleichung der Wirtschaftsleistungen der Länder zu verstehen.

Das zweite Konvergenzkonzept – die sogenannte s -Konvergenz - überprüft, ob es zu einer relativen Angleichung der gesamtwirtschaftlichen Produktion pro Kopf im Zeitablauf kommt. Die Angleichung wird dabei als Abnahme der Standardabweichung der logarithmierten Werte des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf ermittelt. Dieser Indikator kommt dem im Maastrichter Vertrag genannten Ziel einer realen Angleichung der Wirtschaftsleistung am nächsten. Von kurzen Ausnahmeperioden abgesehen, zeigt das kontinuierliche Abnehmen der Streuung, daß die Länder im Sinne des s -Konzeptes vor allem auf lange Sicht konvergieren. Die Standardabweichung ist dabei von 0,523 im Jahre 1960 auf 0,363 im Jahre 1997 um rund 30 vH gesunken. Allein innerhalb der letzten zehn Jahre ist die Streuung um rund 14 vH zurückgegangen.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß es zwischen den Euro-Teilnehmerländern bereits jetzt einen recht deutlich ausgeprägten Konjunkturverbund gibt, der sich in der letzten Dekade verstärkt hat. Außerdem zeigt sich, daß auch der reale Konvergenzprozeß Fortschritte gemacht hat. Ärmere Länder der Europäischen Währungsunion weisen tendenziell höhere Wachstumsraten auf und die Streuung der gesamtwirtschaftlichen Produktion pro Kopf hat im Laufe der Zeit deutlich abgenommen.

II. Konzeptionelle Anforderungen an die gemeinsame Geldpolitik

274. Im Euro-Währungsraum soll dem Ziel der Preisniveaustabilität ein hoher, völkerrechtlich verbindlicher Rang beigemessen werden (Artikel 105 EGV). Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) ist zu einer stabilitätsorientierten Geldpolitik verpflichtet; andere wirtschaftspolitische Ziele der Union (Artikel 2 EGV) darf die neue Notenbank nur unterstützen, wenn damit keine Gefahren für die Geldwertstabilität verbunden sind. Eine wesentliche institutionelle Vorkehrung, um die vertragliche Verpflichtung erfüllen zu können, hat der Maastricht-Vertrag dadurch geschaffen, daß er die Unabhängigkeit des ESZB von politischen Einflüssen postuliert. Darauf können sich die Mitglieder des Direktoriums der Europäischen Zentralbank ebenso berufen wie die Präsidenten der nationalen Notenbanken als weitere Mitglieder des EZB-Rates, des obersten Beschlußorgans für die europäische Geldpolitik; die nationalen Zentralbankpräsidenten sind nicht Vertreter ihrer jeweiligen Heimatländer. Der Status der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der stabilitätspolitische Auftrag enthalten eine klare Botschaft an die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen in den Euro-Teilnehmerstaaten und in den übrigen Mitgliedsländern der Europäischen Union:

- In den Teilnehmerstaaten müssen sich Regierung (Finanzpolitik) und Tarifvertragsparteien (Lohnpolitik) angesprochen fühlen, und zwar dahingehend, daß sie im eigenen Verantwortungsbereich stabilitätskonform verfahren und Konflikte mit der Europäischen Zentralbank zu Lasten von Produktion und Beschäftigung vermeiden (Ziffern 294 ff. und 314 ff.).

- Darüber hinaus muß der ECOFIN-Rat die geldpolitischen Entscheidungen der Europäischen Zentralbank respektieren und seine eigenen Kompetenzen in der neuen Geldordnung (bei der Wechselkurspolitik gegenüber Drittländern, bei der Kontrolle übermäßiger Budgetdefizite im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts) so wahrnehmen, daß die nunmehr supranationale Geldpolitik nicht unterlaufen wird. Die gleiche Grundhaltung ist im Euro-11-Rat erforderlich, wenn die Regierungen der Teilnehmerländer über wirtschaftspolitische Fragen, die die Währungsunion angehen, beraten.

- Die EU-Mitgliedstaaten, die an der Währungsunion nicht teilnehmen (derzeit Dänemark, Griechenland, Schweden und das Vereinigte Königreich), können nicht erwarten, daß im Falle eines Abwertungsdrucks auf ihre Währungen die Europäische Zentralbank an den Devisenmärkten unter Inkaufnahme von Inflationsrisiken für den Euro-Währungsraum intervenieren werde. Länder, die zu einem späteren Zeitpunkt der Währungsunion beitreten wollen, müssen den Euro als Ankerwährung akzeptieren und selbst eine stabilitätsorientierte Geldpolitik verfolgen.

Vorerst sind dies alles natürlich Hoffnungswerte, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Basis für die Zuversicht - eine erfolgreiche Stabilitätspolitik der Europäischen Zentralbank - muß im Alltag erst noch geschaffen werden. Vom Kurs der künftigen Wirtschaftspolitik in Deutschland und den anderen Teilnehmerstaaten, sprich von der optimalen Kombination der in nationaler Souveränität verbleibenden Politikfelder mit der alsbald supranationalen Geldpolitik (Policy Mix), wird viel abhängen, damit dieses Jahrhundertprojekt gelingt. Hier stehen wir noch vor Lernprozessen, wie die aktuelle Diskussion deutlich macht. Nicht überall scheinen die Verantwortlichen wahrhaben zu wollen, daß nach dem Eintritt in die Währungsunion die zuvor eingeleiteten Bemühungen um die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und die Bewältigung innerer Strukturprobleme entschlossen fortgesetzt werden müssen. Daß Vertreter der Europäischen Kommission sich genötigt sehen, öffentlich die Mitgliedsländer an die sich aus dem Maastricht-Vertrag ergebenen Verpflichtungen zu erinnern, muß zu denken geben. Wir halten es für wichtig, daß die neue Bundesregierung mit gutem Beispiel vorangeht und die für 1999 anstehende Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union nutzt, um nachhaltig an dem stabilitätspolitischen Konsens unter den Teilnehmerländern zu arbeiten. Jüngste Verlautbarungen von Mitgliedern der neuen Bundesregierung nehmen wir zum Anlaß, vor Versuchungen zu warnen, die Verschuldungsgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakts aufweichen und die Widerstandskraft der Europäischen Zentralbank gegenüber politischem Druck testen zu wollen; Vertrauen in den Euro käme so nicht auf.

Innere Stabilität des Euro vorrangig

275. Das Stabilitätsziel ist nicht Selbstzweck, sondern entspricht einer grundlegenden ökonomischen Einsicht: daß nämlich niedrige Preissteigerungsraten einer effizienten Faktorallokation und einem angemessenen und stetigen wirtschaftlichen Wachstum zuträglicher sind als hohe und im Zeitablauf schwankende. Ein im Inneren stabiler Geldwert ist außerdem eine notwendige Bedingung dafür, daß nach außen der Euro zu einer bedeutenden Transaktions-, Anlage- und Reservewährung wird. Darüber hinaus kann dann der Euro auch Leitwährung sein für die Mitgliedsländer im neuen Wechselkursmechanismus WKM II (gegenwärtig Dänemark und Griechenland) und für jene mittel- und osteuropäischen Staaten, die sich durch einseitige Anbindung ihrer Währungen an den Euro eine funktionstüchtige Geldordnung verschaffen wollen.

276. Bei der Konkretisierung des gemeinsamen Stabilitätsziels hat sich der EZB-Rat von den bereits erreichten niedrigen Preissteigerungsraten leiten lassen. Diese werden am Jahresende in den meisten Teilnehmerländern der Währungsunion unterhalb von 2 vH liegen, auch in Deutschland, wo unter Berücksichtigung der unvermeidlichen statistischen Unschärfen in den Preisindizes nahezu volle Geldwertstabilität herrscht (Ziffer 98). In dem Rats-Beschluß vom 13. Oktober heißt es: "Preisstabilität wird definiert als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von unter 2 % gegenüber dem Vorjahr". In einzelnen Ländern wird es je nach der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung kleinere Abweichungen von der durchschnittlichen Preissteigerungsrate nach oben und unten geben können. Auf eine Besonderheit ist hierbei im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Aufholprozessen der weniger entwickelten Euro-Teilnehmerländer zu achten. Dort werden die im Vergleich zu den anderen Ländern schneller steigenden Einkommen zu einer nach Maßgabe der jeweiligen Einkommenselastizitäten verstärkten Nachfrage nach international nicht-handelbaren Gütern führen (zum Beispiel Dienstleistungen für lokal ausgerichtete Märkte, Grundstücke, Wohnungsvermietung). Deren Preise erhöhen sich im allgemeinen. Von Angebotsengpässen abgesehen liegt der Hauptgrund darin, daß das Lohnniveau für die in diesem Sektor Beschäftigten rascher steigt als die Produktivität; es wird gleichsam von der Lohnentwicklung in den produktivitätsstarken Bereichen hochgezogen (imitierende Lohnsteigerungen). Die Preise der international nicht-handelbaren Güter erhöhen sich relativ zu den Preisen der handelbaren Güter (in der Exportproduktion und in der mit Importen konkurrierenden Inlandsproduktion), die sich im internationalen Wettbewerb ergeben. Implizit wertet sich bei diesen Aufholländern der Euro real auf. Anders ausgedrückt: Das Verbraucherpreisniveau steigt zusätzlich an, wie dies gegenwärtig in der Peripherie des Euro-Währungsraums beobachtet werden kann. Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex wird von solchen länderspezifischen Besonderheiten beeinflußt, aber angesichts des kleinen Gewichts dieser Länder in den gesamteuropäischen Aggregaten ist nicht mit durchschlagenden inflationären Impulsen für den Euro-Währungsraum als Ganzes zu rechnen.

Beispielsweise würde sich eine Inflationsrate in Spanien, der größten Volkswirtschaft unter den Aufholländern, von 5 vH nur mit etwa 0,4 vH beim Anstieg des Verbraucherpreisindex der Europäischen Währungsunion auswirken; in Irland, dem Aufholland mit der stärksten Wirtschaftsdynamik, würde sich die gleiche Inflationsrate gerade einmal mit 0,05 vH niederschlagen (Tabelle 70).

Tabelle 70 nicht eingebunden

277. Das europaweit günstige Preisklima ist eine gute Voraussetzung für die künftige Arbeit der Europäischen Zentralbank. Es gibt Anlaß zu der Erwartung, daß die Präsidenten der nationalen Notenbanken im EZB-Rat den im eigenen Land erzielten Stabilisierungserfolg in die nunmehr gemeinsam zu treffenden geldpolitischen Entscheidungen einbringen; besonders in Bezug auf jene Länder, die noch keine allzu weit zurückreichende Erfahrung mit einer stabilitätsorientierten Geldpolitik haben, besteht Grund für die Vermutung, daß der stabilitätspolitische Ehrgeiz der letzten Jahre jetzt nicht nachlassen wird, nachdem gerade dort mit dem Rückgang der Inflationsraten eine gute Grundlage für mehr Wachstum und Beschäftigung gelegt wurde. Das Verhalten der Notenbankpräsidenten wird für die Sicherung eines stabilen Euro eine sehr große Bedeutung haben. Denn im EZB-Rat sind sie gegenüber den Mitgliedern des Direktoriums der Europäischen Zentralbank in der Mehrheit (gegenwärtig 11 zu 6); bei geldpolitischen Entscheidungen hat jede Stimme das gleiche Gewicht. Bekämen nationale Sonderinteressen an konjunkturpolitischen und beschäftigungspolitischen Zielen die Oberhand, so könnte eine gemeinsame europäische Geldpolitik nicht funktionieren. Um so wichtiger ist es, daß die Notenbankpräsidenten ihre persönliche Verpflichtung auf die stabilitätspolitischen Belange des Euro-Währungsraums als Ganzes im Blick haben und bei geldpolitischen Entscheidungen die Entwicklungen in ihren Heimatländern, wenn überhaupt, nur insoweit berücksichtigen, als damit die Stabilität der gemeinsamen Währung nicht gefährdet wird.

278. So entspannt sich die monetäre Ausgangslage für die Europäische Zentralbank darstellt, Reputation und Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit und an den internationalen Finanzmärkten ergeben sich nicht schon deshalb von selbst. Die Geldpolitik muß zwar nicht danach trachten, mit dem Einstieg in die gemeinsame Währung die durchschnittliche Preissteigerungsrate weiter zu senken; die Risiken unerwünschter kontraktiver Wirkungen sollten nicht eingegangen, die Chancen zu mehr Expansion bei Stabilität nicht vereitelt werden. Aber das bedeutet gegenwärtig für die Europäische Zentralbank, daß eine erfolgreiche Politik nicht durch Disinflation zum Ausdruck kommt, sondern dadurch, daß das erreichte hohe Maß an Geldwertstabilität bewahrt wird. Eine einfache Aufgabe ist das nicht, wie die Erfahrung lehrt; zu sehr in Sicherheit darf sich die Europäische Zentralbank nicht wiegen, in einem Papiergeldstandard, wie er auch in der Währungsunion bestehen wird, sind Inflationsgefahren nie auszuschließen.

279. Verbreitet ist heute indes die Vorstellung, die Europäische Zentralbank werde zunächst einmal Deflationsgefahren abwehren müssen. Als Deflationsvorboten gelten die sinkenden Lohnstückkosten in Deutschland, die die D-Mark gegenüber den Währungen der anderen EU-Länder real abwerten und europaweit einen Lohnsenkungswettbewerb auslösen könnten, ferner die wiederholten Kurseinbrüche an den führenden Aktienbörsen vor dem Hintergrund schwerer Banken- und Finanzkrisen in Japan, in verschiedenen Schwellenländern Ostasiens und Lateinamerikas und in Rußland, außerdem der verschärfte Preiswettbewerb durch Anbieter aus Niedriglohnländern, deren Währungen massiv abgewertet wurden. Um bei den Marktteilnehmern keine unnötige Verwirrung zu stiften, sollte mit dem Begriff Deflation sorgfältiger umgegangen werden, als es in der öffentlichen Diskussion geschieht. In der Wissenschaft versteht man unter Deflation den Rückgang des allgemeinen Preisniveaus, nicht Veränderungen von Preisrelationen. Wenn einzelne Preise von Gütern oder Vermögenswerten sinken, ist das geldpolitisch unerheblich; auf funktionierenden Märkten ist das Auf und Ab von Preisen verbunden mit sich im Zeitablauf ändernden Preisrelationen ein normaler Vorgang. Wenn indes das allgemeine Preisniveau im Euro-Währungsraum absolut sinken würde, und zwar nicht nur vorübergehend und ein wenig (wie zum Beispiel im früheren Bundesgebiet im Jahre 1986), sondern andauernd und stark, dann wäre die Europäische Zentralbank gefordert. Denn eine solche Entwicklung wäre gesamtwirtschaftlich nachteilig, weil der Realwert der Geldhortung stiege und dies die Ausgabenneigung der Privaten bremste, weil der Realwert von Verbindlichkeiten zunähme und dies die Unternehmen in eine Finanzierungsklemme zu Lasten von neuen Investitionen brächte und weil sich bei nach unten starren Nominallöhnen die Reallöhne erhöhten und dies Arbeitsplätze kostete.

Der Sachverständigenrat teilt nicht die These, daß dem Euro-Währungsraum eine deflatorische Entwicklung droht, gar eine wirtschaftliche Depression (Ziffer 223). Daß angesichts der hohen Arbeitslosigkeit Zurückhaltung in der Tariflohnpolitik geübt wird, halten wir für sachgerecht (Ziffer 424), die Vorstellung einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale bei den Löhnen im Euro-Währungsraum mit schädlichen realwirtschaftlichen Konsequenzen für wirklichkeitsfremd (Ziffern 317 f.). In Bezug auf die monetären Rahmenbedingungen, die letztlich ausschlaggebend dafür sind, ob es zu einer Deflation kommt oder nicht, ist nirgendwo in der Europäischen Währungsunion ein Mangel an Liquidität auszumachen, der in der Wirtschaft zu Preissenkungen in der Breite zwingt. Die Deutsche Bundesbank war mit einem zweijährigen Geldmengenziel in Vorlage getreten und hat dafür gesorgt, daß in Deutschland in den Jahren 1997 und 1998 die Geldmenge M3 potentialgerecht gewachsen ist (Ziffer 153). Die Abflachung der Zinsstrukturkurve in diesem Jahr darf nicht als Zeichen einer am strafferen Zügel geführten Geldpolitik gedeutet werden. Dahinter steht der Rückgang der langfristigen Zinsen; ursächlich dafür sind neben den gefestigten Stabilitätserwartungen die umfangreichen Umschichtungen von Aktien in festverzinsliche Wertpapiere als Reflex der Unsicherheiten an den Finanzmärkten. Die Liquiditätslage ist ausreichend, nicht eng. In den Euro-Peripherieländern hat der Prozeß der Zinskonvergenz in Richtung auf das niedrige Niveau der Kernländer die Geldpolitik auf einen expansiven Kurs gebracht, der auch noch prozyklisch ist und einer konjunkturellen Überhitzung Vorschub leisten könnte. Es ist nicht damit zu rechnen, daß die Europäische Zentralbank zu wenig Geld bereitstellen wird. Schon gar nicht ist damit zu rechnen, wenn im Falle anhaltender oder wiederkehrender Turbulenzen an den internationalen Finanzmärkten der Liquiditätsbedarf zusätzlich steigen sollte (wie nach der Börsenkrise vom Oktober 1987). Dann und nur dann müßte die Europäische Zentralbank die Leitzinsen senken und notfalls in Kauf nehmen, daß sich das Tempo des Geldmengenwachstums überhöht; zu einem späteren Zeitpunkt, nach Bewältigung der Krise, könnte und müßte die zusätzliche Liquidität geldpolitisch kompensiert werden, damit sich nicht inflationäre Entwicklungen durchsetzen. Keinen besonderen Handlungsbedarf hat die Notenbank, wenn der Wettbewerb auf den Gütermärkten Preiserhöhungsspielräume einengt und dazu führt, daß kostengünstiger produziert wird. Das heißt nicht, daß dadurch weniger Produktion und Beschäftigung lohnend wird, im Gegenteil: Güter, die billiger werden, ziehen im allgemeinen zusätzliche Nachfrage auf sich. Das wäre kein Krisenszenario. Wir nehmen aber die Deflationsdebatte zum Anlaß, um auf die Bedeutung hinzuweisen, die die Stetigkeit und Berechenbarkeit der Geldpolitik für die Bildung stabiler Erwartungen der Marktteilnehmer hat; vor allem an den Finanzmärkten werden die Risiken von unerwünschten Reaktionen stark verringert, wenn die Notenbank verläßlich einen stetigen Kurs verfolgt und nicht in Aktionismus verfällt.

280. Vielerorts wird der Standpunkt vertreten, daß angesichts der niedrigen Preissteigerungsraten die europäische Geldpolitik stärker in den Dienst der Konjunkturstützung und der Verbesserung der Beschäftigungslage gestellt werden könne und müsse. Eingefordert wird die sogenannte "soziale Stabilität". Konkret läuft dies auf die Forderung nach einer forciert expansiven Geldpolitik hinaus, die zu noch niedrigeren Zinsen nach Beginn der gemeinsamen Währung führt als sich aus der Zinskonvergenz bis zum Jahresende voraussichtlich ergeben wird. Hinter dieser Forderung steht die Diagnose eines Mangels an binnenwirtschaftlicher Nachfrage, besonders beim Privaten Verbrauch, der durch geldpolitische Stimulanz (in Verbindung mit anderen Maßnahmen zur Stärkung der Kaufkraft) zu beheben sei.

Der Sachverständigenrat hält diese Argumentation für nicht überzeugend. Wir haben für Deutschland wiederholt auf gravierende Unzulänglichkeiten in den gesamtwirtschaftlichen Angebotsbedingungen hingewiesen, die sich auf die Investitionsbereitschaft der Unternehmen nachteilig auswirken (Ziffern 115 ff.). Wir haben überdies wiederholt beklagen müssen, daß die Flexibilität des Arbeitsmarktes gemessen am bestehenden Anpassungsbedarf unzureichend ist (JG 97 Ziffern 363 ff.); die sich auch dadurch auf hohem Niveau verfestigende Arbeitslosigkeit und die Unsicherheit über die künftigen Beschäftigungschancen mögen den Konsum gebremst haben. Es gibt keinen Beleg dafür, daß Unternehmen und private Haushalte wegen der gegenwärtigen Zinsen nicht zusätzlich investieren und konsumieren. In anderen Euro-Teilnehmerländern liegen die Verhältnisse ähnlich, wie zahlreiche Studien dargelegt haben. Entsprechend sind die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen für die Wiedergewinnung von wirtschaftlicher Dynamik im Euro-Währungsraum in anderen Bereichen als den der Geldpolitik aufzusuchen, namentlich in der Finanzpolitik, der Sozialpolitik und der Lohnpolitik einschließlich der Arbeitsmarktpolitik. Die europäische Geldpolitik wäre vollkommen überfordert, ließe sie sich für die Lösung struktureller Probleme einspannen. Sie wird gerade unter wachstumspolitischen und beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten als Stabilitätspolitik gebraucht, und das ist die Aufgabe, die sie meistern kann. Damit sich die Europäische Zentralbank dabei möglichst gut gegenüber politischem Drängen nach einer laxen Geldpolitik schützen kann, ist ihr eine Strategie anzuraten, bei der sie sich in Bezug auf die Geldmengenentwicklung selbst glaubwürdig bindet.

Strategische Weichenstellungen

281. Damit das Euro-Geld gutes Geld wird, muß es knapp sein. Knapp sein bedeutet: Die Geldversorgung im Euro-Währungsraum reicht aus, um die Transaktionen zu finanzieren, die für eine normale Auslastung des (wachsenden) Produktionspotentials erforderlich sind; wohlgemerkt, die Geldnachfrage zur Nutzung von Produktionsmöglichkeiten steht im Vordergrund, nicht die Finanzierung von Preissteigerungen, die über das hinausgehen, was angesichts von Preisrigiditäten mittelfristig unvermeidlich sein mag. Zwar kann die Europäische Zentralbank nicht erzwingen, daß die bereitgestellte Geldmenge durch die Akteure an den Märkten für eine Ausweitung der Produktion, letztlich auch der Beschäftigung, bei einem weitgehend stabilen Preisniveau genutzt wird; im Zuge von Verteilungskämpfen in gleich mehreren Teilnehmerländern könnte es auch zu einer Beschleunigung des Preisniveauanstiegs kommen, die die Geldnachfrage zusätzlich erhöht. Wenn freilich die Notenbank erst einmal klargemacht hat, was sie für die normale europäische Geldversorgung hält, würde die Finanzierung von übermäßigen Preisniveausteigerungen die übrigbleibende Euro-Geldmenge in einer Weise verknappen, die den Spielraum für die realwirtschaftliche Aktivität verengt. Die Verantwortung hätten jene zu tragen, die sich stabilitätswidrig verhalten. Im Sinne der sauberen Abgrenzung von Aufgaben- und Verantwortungsbereichen darf dies anders gar nicht sein (JG 97 Ziffer 294). Reputation als Hüterin der Euro-Stabilität zu gewinnen wird der Europäischen Zentralbank schon schwer genug fallen. Sie kann daher nicht zulassen, daß in der Öffentlichkeit auch nur der Eindruck entsteht, sie agiere im Schlepptau von Partikularinteressen, für die Geldwertstabilität nicht vorrangig sei.

282. Für die Objektivierung der Geldversorgung im Euro-Währungsraum ist es ratsam, die diskretionären Entscheidungsspielräume der Notenbank möglichst klein zu halten und nach einer festzulegenden geldpolitischen Regel zu verfahren. Die Regelbindung ist ein institutionelles Arrangement, bei dem die Probleme der Zeitinkonsistenz optimaler Strategien, die in der Geldpolitik auftreten können, verringert werden. Die Regelbindung sollte zwar nicht starr sein; die Europäische Zentralbank muß in unerwarteten Ausnahmesituationen (bei exogenen Schocks) reagieren können. Aber die Flexibilität darf nicht beliebig sein, sie hat unter einem strengen Begründungsvorbehalt zu stehen. Die Vorteilhaftigkeit der Regelbindung im Vergleich zum diskretionären Handlungsspielraum wird sich schon im Innenverhältnis des ESZB zeigen: Die Entscheidungsprozesse werden einfacher, wenn im EZB-Rat nicht immer wieder aufs neue Grundsatzdebatten darüber ausbrechen, ob und gegebenenfalls welcher geldpolitische Handlungsbedarf besteht. Hinzu kommt die positive Außenwirkung: Mit der geldpolitischen Regelbindung signalisiert die Europäische Zentralbank allen Euro-Teilnehmerländern den Verzicht auf eine aktive Konjunkturpolitik und den Willen, Versuche einer direkten oder indirekten politischen Einflußnahme zu Lasten des Ziels der Geldwertstabilität zurückzuweisen. Das wird der Notenbank helfen, Reputation aufzubauen. Der Sachverständigenrat unterstützt daher die Entscheidung des EZB-Rates, eine regelgebundene Geldpolitik betreiben zu wollen.

283. Seit der Gründung der Europäischen Zentralbank am 1. Juli 1998 beschäftigt sich die Öffentlichkeit intensiv mit der Frage, welche geldpolitische Konzeption für die Regelbindung am besten geeignet sei. Von den verschiedenen Modellen, die in der Wissenschaft diskutiert und bisher in den Euro-Teilnehmerländern, mitunter in abgewandelter Form, angewandt wurden, standen zwei zur Debatte: die zielgerechte Geldmengensteuerung, orientiert am Wachstum des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials, und die zielgerechte Steuerung der Preisniveauentwicklung. In beiden Konzeptionen geht es um das gleiche: die Kontrolle der Inflation. Der Unterschied liegt in der Einschätzung der Steuerbarkeit der jeweiligen Zielgröße (Geldmenge oder Preissteigerungsrate) und im Grad der jeweiligen Selbstbindung. Hierzu gibt es in Fachkreisen unterschiedliche Auffassungen. Der Sachverständigenrat hat im Jahresgutachten 1997/98 (Ziffern 393 ff.) nach Abwägung der maßgeblichen Gesichtspunkte die Konzeption einer potentialorientierten Geldmengenpolitik für den Euro-Währungsraum befürwortet. An dieser Linie halten wir fest. Die Ratio ist, daß die Notenbank mit ihrer Geldpolitik an etwas gebunden werden sollte, was sie unmittelbar und rasch beeinflussen und damit auch verantworten kann. Bei der monetären Expansion ist das der Fall, während zinspolitische Maßnahmen auf die Teuerungsrate nicht direkt und nur mit mehr oder weniger großer Zeitverzögerung wirken (in der Bundesrepublik, ökonometrischen Studien zufolge, beträgt der Wirkungs-Lag etwa zwei Jahre). Mit der Geldmenge als Zwischenzielgröße hat daher die Notenbank einen Kompaß, der ihr zeigt, ob sie stabilitätspolitisch auf dem richtigen Weg ist. Wegen ihrer Fähigkeit, die monetäre Expansion an der Geldbasis zu bestimmen, steht die Notenbank öffentlich in der Pflicht, das Geldmengenziel sorgfältig zu begründen und, wenn es dazu kommt, Zielverfehlungen glaubwürdig zu rechtfertigen. Die hierin liegende Bindungswirkung zählt ganz entscheidend zu den Vorzügen dieser Strategie.

Verlaß auf die Strategie der Geldmengensteuerung ist freilich nur, wenn die europaweite Geldnachfrage und damit der Zusammenhang zwischen Euro-Geldmenge einerseits und dem gemeinsamen Bruttoinlandsprodukt und den Zinsen im Euro-Währungsraum andererseits mittelfristig stabil sind. Bei einer direkten Steuerung der Preisniveauentwicklung gilt übrigens ebenfalls, daß die monetären Grundrelationen stabil sein müssen: Nur unter dieser Voraussetzung kann die Europäische Zentralbank über die Geldmengensteuerung das eigentliche Ziel ihrer Politik, die Stabilität des Preisniveaus, erreichen. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, das kann heute niemand sagen. Empirische Studien weisen zwar in diese Richtung. Doch kann man nicht ausschließen, daß zumindest in der Anfangsphase der Währungsunion die Geldnachfragefunktion für den Euro-Währungsraum anders aussieht als erwartet. Aus der wissenschaftlichen Diskussion ist bekannt, daß Strukturbeziehungen, die sich unter einer in der Vergangenheit herrschenden Geldordnung als stabil erwiesen haben, bei rationalen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte weitgehend aufgeweicht werden können, wenn eine andere Ordnung etabliert wird. Das muß beim Übergang zur gemeinsamen Währung, trotz der epochalen Bedeutung dieses Schritts, nicht zwingend passieren. Denn der Übergang kommt nicht plötzlich und unerwartet, sondern nach einer mehrjährigen Phase, in der die Marktteilnehmer nach und nach auf die Währungsunion vorbereitet wurden.

284. Der EZB-Rat hat beschlossen, Elemente aus beiden Konzeptionen der künftigen geldpolitischen Strategie zugrundezulegen, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Als ein Hauptelement wird die Geldmenge genommen. Sie soll eine "herausragende Rolle" spielen, für das Geldmengenwachstum soll ein "Referenzwert" quantifiziert werden. Zudem wird eine "Beurteilung der Aussichten für die künftige Preisentwicklung und der Risiken für die Preisstabilität im Euro-Währungsgebiet" vorgenommen werden. Die Geldmengensteuerung wird also nicht strikt an einem Geldmengenziel orientiert. Mit dem Referenzwert will sich die Notenbank erklärtermaßen einen gewissen Ermessensspielraum für den Fall sichern, daß zu Beginn der gemeinsamen Währung die Geldnachfrage sehr volatil ist; es könnten dann erst einmal die Ursachen für die unstetige Geldmengenentwicklung reflektiert werden, ohne gleich in Erklärungsnöte zu geraten und zinspolitische Maßnahmen in Betracht ziehen zu müssen. So kann man angesichts der besonderen Situation am Anfang der Währungsunion argumentieren und die Märkte überzeugen. Wichtig ist freilich, daß die geldpolitische Selbstbindung nicht aufgeweicht wird. Sobald sich die Eigenschaften der europäischen Geldnachfrage herauskristallisieren und gefestigte monetäre Grundrelationen erkennbar sind, sollte der diskretionäre Spielraum verringert und könnte zu einem quantifizierten Geldmengenziel übergegangen werden. Auch dann wird die Europäische Zentralbank, wenn nötig, flexibel handeln können, eine mechanistische Anwendung der Geldmengenregel, die blind ist gegenüber (eindeutigen) Ausnahmetatbeständen, verlangt niemand. Allerdings werden bei Abweichungen der Geldmengenentwicklung vom Zielpfad die Anforderungen an die von der Notenbank zu gebenden Erklärungen und Begründungen stringenter werden, als sie es bei "Verfehlungen" eines Referenzwerts sind.

Mit dem zweiten Hauptelement ihrer geldpolitischen Strategie - der Inflationsprognose - will die Europäische Zentralbank ebenfalls den Unsicherheiten über die europäische Geldnachfragefunktion Rechnung tragen. Die Inflationsprognose soll allerdings, entgegen der in der öffentlichen Diskussion vielfach erhobenen Forderung, nicht veröffentlicht werden. Der Sachverständigenrat hält dies für sachlich richtig. Bei einer Veröffentlichung der Inflationsprognose würde die Europäische Zentralbank womöglich in Streitereien bezüglich des Prognosemodells und der Gründe für etwaige Prognosefehler verwickelt, die die Märkte verunsichern und für die Politiker Anlaß sein könnten, geldpolitischen Handlungsbedarf in ihrem Sinne einzufordern.

Der EZB-Rat hat in seiner Entscheidung, wie erwähnt, einen Eckwert für den mittelfristigen Preisanstieg quantifiziert und veröffentlicht. Sollte als Folge eines exogenen Schocks, zum Beispiel einer starken Verschlechterung des realen Austauschverhältnisses (Terms of Trade), die Rate der Geldentwertung im Euro-Währungsraum hochschnellen, so definiert dieser Eckwert das Ziel, an das die Inflationsrate zurückzuführen ist, was aber nicht überstürzt zu geschehen braucht, sondern allmählich und damit unter Vermeidung einer Stabilisierungsrezession betrieben werden kann. Ein solcher Eckwert hat gegenüber einem direkten Inflationsziel zwei Vorzüge: Zum einen vermeidet die Notenbank jedweden Eindruck, sie könne unmittelbar und jederzeit die Preisniveauentwicklung steuern, das heißt, notfalls auch einen unerwartet aufkommenden Inflationsdruck sofort wirksam bekämpfen; für jedermann wird anschaulich, was eine stabilitätsorientierte Geldpolitik leisten kann und wo sie zwecks Erreichung des Ziels der Geldwertstabilität ansetzen sollte. Zum anderen kommt es nicht zu einer Verwischung der Verantwortlichkeiten zwischen den einzelnen Politikbereichen; ist der Referenzwert für die Geldmengenexpansion regelgerecht aus der Wachstumsrate des realen Produktionspotentials und dem Trend der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes abgeleitet, muß die Notenbank eine über den Eckwert für den mittelfristigen Preisanstieg hinausgehende aktuelle Geldentwertung nicht gegen sich gelten lassen und kann der Öffentlichkeit mit guten Gründen darlegen, wo sie die Ursachen sieht und was von wem an Remedur kommen muß, wenn sie nicht genötigt sein soll, geldpolitische Restriktionsmaßnahmen zu ergreifen. Beides ist für die Notenbank reputationssteigernd.

285. Bei der Quantifizierung des Referenzwertes für die Geldmenge - das hat sich der EZB-Rat für Dezember vorgenommen - müssen verschiedene Gesichtspunkte abgeschätzt werden:

- Der Referenzwert wird von den gleichen Größen abgeleitet, die für ein Geldmengenziel relevant sind: das Wachstum des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials, der Trend der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes und der Eckwert für die mittelfristige Preisniveauentwicklung. Bei den beiden erstgenannten Größen besteht das Problem darin, daß die Datenlage für den Euro-Währungsraum als Ganzes noch unzureichend ist; die nationalen Ursprungsdaten haben nicht überall die gleiche Qualität und Aussagekraft und können daher nicht ohne weiteres aggregiert werden. Originäre Euro-Geldmengendaten werden erst kurz vor Beginn der Währungsunion bereitgestellt. In den zur Zeit vorliegenden Untersuchungen behilft man sich unter anderem mit den Angaben, die für die fünf größten Teilnehmerländer (Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Spanien) vorliegen, was insofern vertretbar ist, als dort zu über 85 vH die wirtschaftliche Leistung in der Europäischen Währungsunion entsteht. Die künftige mittelfristige Wachstumsrate für das gemeinsame Produktionspotential dieser Ländergruppe dürfte in der Größenordnung von 2½ vH liegen. Diese Rate ist etwas höher als die gegenwärtige. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß unter anderem in Deutschland die Investitionsschwäche der letzten Jahre Bremsspuren beim gesamtwirtschaftlichen Produktionspotential hinterlassen hat. Die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes (als Aggregat M3) weist im ganzen einen leicht rückläufigen Trend auf, der sich womöglich etwas abschwächt, zum Beispiel weil die Umstellung des Zahlungsverkehrs auf Euro die Effizienz des Bankensystems erhöht oder weil der bargeldlose Zahlungsverkehr zunimmt und dies zu einer weiteren Rationalisierung der Kassenhaltung führt. Der rückläufige Trend der Umlaufsgeschwindigkeit wäre durch einen Zuschlag auf das Potentialwachstum zu berücksichtigen; wir quantifizieren den Zuschlag mit ½ vH. Der Eckwert für die mittelfristige Preisniveauentwicklung wird, in Anlehnung an die Definition durch den EZB-Rat, mit knapp 2 vH angesetzt. Für die monetäre Expansion mit dem neuen Geld könnte eine Vorgabe von rund 5 vH für das Jahr 1999 gemacht werden, diese Vorgabe knüpft an der aggregierten Geldmenge der Teilnehmerländer am Jahresende 1998 an; hierbei ist unterstellt, daß ein Geldüberhang dann nicht vorliegt.

- Bei der Wahl der Steuergröße für die monetäre Expansion läge es nahe, die Euro-Zentralbankgeldmenge zu nehmen. Das vom ESZB bereitgestellte Zentralbankgeld wäre die Basis für die Kreditgewährung der Banken in den Mitgliedsländern. Erweist sich der Geldmultiplikator als hinreichend stabil, so könnte über die Schaffung von Zentralbankgeld die Liquiditätsversorgung im gemeinsamen Währungsgebiet mittelfristig verstetigt werden. Doch die Erfahrungen in der Bundesrepublik lehren, daß die Entwicklung der Zentralbankgeldmenge der Notenbank auch aus der Hand gleiten kann, wie in diesem Jahr (Ziffer 156); darunter leiden die Aussagefähigkeit dieses Geldaggregats als monetäres Zwischenziel und dessen Qualität als Liquiditätsindikator, die Beurteilung des geldpolitischen Kurses ist dann schwierig. Hinzu kommt die Möglichkeit, daß am Anfang, bis sich die Zahlungsgewohnheiten der Wirtschaftssubjekte auf den Euro eingestellt haben, größere Schwankungen im Bargeldumlauf auftreten und damit auch in der Zentralbankgeldmenge; die Anpassung der nationalen Bankensysteme mit ihrem Bedarf an Zentralbankgeld an die neuen Mindestreserveregelungen kann für zusätzliche Instabilität sorgen. Angesichts solcher Unwägbarkeiten wird man vermutlich am wenigsten falsch machen, und so sieht es auch die Europäische Zentralbank, wenn bei der Formulierung des Referenzwertes für die Geldmenge ein weiter gefaßtes (harmonisiertes) Geldmengenaggregat, zum Beispiel in der Abgrenzung M3, herangezogen wird; für ein solches monetäre Aggregat sind empirische Schätzungen über die Stabilität der europäischen Geldnachfrage zu befriedigenden Ergebnissen gelangt. Gleichwohl gibt es auch hier Unwägbarkeiten. Denn unbekannt ist, ob und gegebenenfalls wie sich in den Euro-Teilnehmerländern nach Einführung der gemeinsamen Währung die Präferenzen der Privaten für Bargeldhaltung, Sichteinlagen, Termineinlagen und Spareinlagen sowie die Neigung zur Geldkapitalbildung verändern werden; hierüber müssen erst Erfahrungen gesammelt werden. Je nachdem, wie in der Praxis die Entwicklung der monetären Aggregate verläuft und wie eng die Verbindung zu den realwirtschaftlichen Transaktionen ist, wird zu entscheiden sein, ob es bei der Geldmenge M3 bleiben kann oder ein anderes Aggregat als Steuergröße verwendet werden sollte (in der wissenschaftlichen Diskussion werden auch zinsgewichtete Geldmengenaggregate, die Divisia-Indizes, genannt).

- Konzeptionell gesehen wäre es angebracht, mit dem Referenzwert für das Geldmengenwachstum auch den Zeitraum festzulegen, für den dieser Wert gelten soll (zum Beispiel für ein Jahr oder länger). Das würde zu einer Verstetigung der Erwartungen der Marktteilnehmer beitragen. Aber wegen der erwähnten Unwägbarkeiten in der Anfangsphase muß man wohl erst einmal abwarten und beobachten, wie sich die monetären Grundrelationen darstellen. Sobald darüber einigermaßen Klarheit besteht, könnte und sollte ein Zeithorizont für den Referenzwert angekündigt werden. Dann kann auch über andere Aspekte der Steuerungstechnik (zum Beispiel über die Frage von Bandbreiten) entschieden werden.

286. Die vom Referenzwert für die Geldmenge angelegte monetäre Expansion bezieht sich auf den gesamten Euro-Währungsraum und differenziert nicht nach Ländern. Bei Unterschieden im Liquiditätsbedarf, zum Beispiel als Folge einer zwischen den Ländern divergenten wirtschaftlichen Entwicklung, muß und wird der Markt die entsprechende Verteilung des Euro-Geldes besorgen. So war es bislang auch innerhalb der nationalen Währungsgebiete, und anders kann es bei der innereuropäischen Freiheit des Geld- und Kapitalverkehrs gar nicht sein. Das bedeutet, daß es im Euro-Währungsraum nur einheitliche Leitzinsen geben kann. Das gilt nicht nur für den Fall regionaler Inflationsdifferenzen, sondern auch bei Unterschieden im Konjunkturverlauf der einzelnen Länder, die derzeit noch bestehen und die im gewissen Umfang auch künftig zu erwarten sind, so lange jedenfalls, wie die einzelnen Volkswirtschaften unterschiedlich auf die Entwicklungen in der Finanzpolitik und der Lohnpolitik reagieren, so lange auch, wie sie wegen divergierender Produktionsstrukturen und Elastizitäten der heimischen Güter- und Faktormärkte nur unterschiedlich in der Lage sind, außenwirtschaftliche Störungen zu verarbeiten und Impulse von außen zu nutzen, und so lange schließlich, wie sie angesichts unterschiedlicher Fristigkeitsstrukturen bei der Kreditfinanzierung von Investitionen und Verbrauchsausgaben unterschiedlich durch zinspolitische Maßnahmen betroffen werden. Daß die europäische Geldpolitik bei der Geldversorgung und den Zinsen regional nicht wird differenzieren können, ist überhaupt nicht zu beklagen. Im Gegenteil: Die Geldpolitik soll ja gerade nicht mit konjunkturpolitischen Aufgaben überfrachtet werden, rollengerecht soll sie vielmehr für eine stetige, stabilitätskonform bemessene monetäre Expansion sorgen.

287. Zur Jahreswende wird der EZB-Rat über das erstmals gemeinschaftliche Niveau der Leitzinsen zu entscheiden haben. Das monetäre Umfeld gibt alles andere als eine klare Orientierung. Es muß zwar in den nächsten Wochen die Zinskonvergenz zwischen den Niedrigzinsländern im Kern des Euro- Währungsraums und den Hochzinsländern der Peripherie vollendet werden. Doch bei welchem Prozentsatz die Leitzinsen vereinheitlicht werden sollen, kann unterschiedlich beantwortet werden. Aus der Sicht jener Peripherieländer, in denen die Konjunktur bereits kräftig ist - besonders Irland -, wäre es erwünscht, daß nicht alleine ihre Notenbanken den Konvergenzbeitrag erbringen müssen, durch weitere Zinsanpassungen nach unten; die ganze Last bei der Vermeidung einer konjunkturellen Überhitzung läge bei der Fiskalpolitik, die sehr restriktiv sein müßte und zum Beispiel in Irland den bereits im vergangenen Jahr erreichten Haushaltsüberschuß noch vergrößern würde. Aus der Sicht der Kernländer, Deutschland eingeschlossen, erscheint es hingegen nicht wünschenswert, bei der Zinskonvergenz mittels eigener Zinsschritte nach oben aktiv zu werden; die erst langsam in Schwung kommende Verstärkung der Binnennachfrage könnte darunter leiden.

Die Entscheidungssituation wird durch die Labilität des weltwirtschaftlichen Umfeldes erschwert. Der politische Druck auf die nationalen Notenbanken, die Leitzinsen deutlich zu senken, hat zugenommen, auch in Deutschland. Von solchen Pressionen dürfen sich die Verantwortlichen der Geldpolitik nicht beirren lassen; es wäre sonst mit der Glaubwürdigkeit ihrer Unabhängigkeit und des Versprechens, für einen stabilen Euro sorgen zu wollen, schnell dahin. Nur wenn die Finanzkrisen wirklich eine weltweite Rezession auszulösen drohen, wofür wir derzeit aber keine Anzeichen sehen, gäbe es geldpolitischen Handlungsbedarf (möglicherweise in Abstimmung mit Maßnahmen in anderen Politikbereichen). Von Leitzinssenkungen "auf Vorrat" ist nichts zu halten, man würde völlig unnötig das Risiko eingehen, daß an den Finanzmärkten spekulative Blasen entstehen. Durch die Zinskonvergenz in der Europäischen Währungsunion wird auf jeden Fall das Zinsniveau niedriger sein, als es gegenwärtig im Durchschnitt der Teilnehmerländer ist. Das muß für einen Kurs der angemessenen Geldpolitik erst einmal genügen.

288. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank muß transparent sein. Nur dann können die Marktteilnehmer, der Staat und die Tarifvertragsparteien beurteilen, ob die Notenbank gemäß der von ihr selbst entworfenen Konzeption verfährt und die geldpolitischen Instrumente zielgerecht einsetzt. Nur durch Transparenz kann das Vertrauen in einen stabilen Euro-Geldwert aufgebaut werden. Die Deutsche Bundesbank ist dem Erfordernis der Transparenz dadurch nachgekommen, daß sie einen ständigen, breit dokumentierten Dialog mit der Öffentlichkeit und der Politik geführt hat; darin wurden die alljährlichen Geldmengenziele erläutert, die aktuellen monetären Entwicklungstendenzen mit den Zielen kontrastiert, Abweichungen analysiert, die konkreten geldpolitischen Maßnahmen begründet und die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen thematisiert, von denen die Geldpolitik betroffen war und die sie ihrerseits beeinflußt hat. Die Europäische Zentralbank bereitet eine ähnliche Politik vor. Auch sie wird nicht im luftleeren Raum agieren können, auch sie wird, wann immer nötig, das Zusammenspiel zwischen Geldpolitik und den übrigen Politikbereichen ausformen müssen, auch sie wird gegenüber den Märkten ständig im Obligo stehen, ausreichend Informationen bereitzustellen, die die wirtschaftlichen Erwartungen stabilisieren, und über all dies hinaus, liegt es in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse, eine europäische Meinungsbildung in Sachen Geld- und Währungspolitik in Gang zu bringen.

289. Der Maastricht-Vertrag verpflichtet die Europäische Zentralbank zur Auskunft gegenüber dem Europäischen Parlament, dem ECOFIN-Rat, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat (Artikel 113 Abs. 3 EGV und Artikel 15 ESZB-Satzung). In jüngster Zeit wird unter Hinweis auf diesen Vertragsgrundsatz ("accountability") kontrovers diskutiert, wie weit der Rahmen für die amtlichen Informationspflichten gegenüber den Politikinstanzen gesteckt werden kann oder soll. Der Sachverständigenrat wirbt dafür, von Anfang an klare Regeln zu schaffen und alles zu vermeiden, was die Frage nach der Transparenz der europäischen Geldpolitik in einen quälenden Dauerstreit führen könnte, der dem Ansehen der Europäischen Zentralbank schaden würde. Zwei Gesichtspunkte sind zu beachten:

- Erstens: Die Europäische Zentralbank hat keinerlei Auskunftspflicht gegenüber den nationalen Parlamenten und sonstigen Institutionen der Euro-Teilnehmerländer. Dies folgt aus dem Charakter der Europäischen Währungsunion als supranationales Gebilde. Mit dem Eintritt in die Währungsunion geben die einzelnen Mitgliedstaaten unwiderruflich ihre bisherige geldpolitische Souveränität auf und übertragen diese auf europäische Instanzen. Die nationalen Parlamente haben durch die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags der Übertragung der Kompetenzen zugestimmt; sie können dies jetzt nicht anders gestalten wollen, indem sie die Europäische Zentralbank zur Berichterstattung ihnen gegenüber aufrufen. Auf nationaler Ebene geführte politische Debatten mit der Europäischen Zentralbank sind wenig geeignet, um die gemeinsame Geldpolitik glaubwürdig und verläßlich erscheinen zu lassen, und bergen statt dessen das nicht geringe Risiko, daß es zu Konflikten kommt, die die Märkte verunsichern. Unbenommen bleibt es den Mitgliedern des EZB-Rates, in ihrer Eigenschaft als nationale Notenbankgouverneure in ihren Heimatländern auch dem dortigen Parlament die europäische Geldpolitik zu erläutern; soweit die nationalen Parlamente ein Anhörungsrecht haben, dürfen damit in keinem Fall Rechenschaftspflichten verbunden werden.

- Zweitens: Die europäischen Politikinstanzen, die vertraglich einen Anspruch darauf haben, von der Europäischen Zentralbank über geldpolitische Entscheidungen unterrichtet zu werden, dürfen nichts verlangen, was die ebenfalls vertraglich garantierte Unabhängigkeit der Notenbank einschränken könnte. Berichte der Europäischen Zentralbank in regelmäßigen Abständen und zusätzlich bei außergewöhnlichen Entwicklungen an den Finanzmärkten, bei denen geldpolitischer Handlungsbedarf besteht, müssen genügen. Außerdem wird die Europäische Zentralbank wissenschaftliche Analysen erstellen und veröffentlichen. Nicht in Betracht kommen kann eine Vorab- Harmonisierung der Geldpolitik mit Wünschen, die seitens der anderen europäischen Politikinstanzen artikuliert werden. Die Wahrnehmung der Auskunftspflichten sollte sich auf die Darlegung und Begründung des geldpolitischen Kurses und damit auf das Ergebnis der Beratungen und Abstimmungen im EZB-Rat beschränken. Eine Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle, wie sie von verschiedenen Seiten empfohlen oder gefordert wird, ist nach unserem Dafürhalten abzulehnen. Sachgerechte Entscheidungen kommen nur zustande, wenn im EZB-Rat offen, natürlich auch kontrovers diskutiert werden kann und wenn bei Meinungsverschiedenheiten die unterlegene Gruppe die mehrheitlich gefaßte Entscheidung nach außen mittragen kann, so daß die Europäische Zentralbank "mit einer Stimme" spricht (differenzierende Nuancen bei öffentlichen Äußerungen der EZB-Ratsmitglieder werden sich nicht vermeiden lassen, das hat es auch in der Deutschen Bundesbank gegeben). Dies hilft, sich vor politischen Einmischungsversuchen abzuschirmen, und es trägt dem Umstand Rechnung, daß die Rechenschaftspflicht dem Europäischen System der Zentralbanken als Ganzes obliegt, nicht den Mitgliedern des EZB-Rates als Einzelpersonen. Um die Europäische Zentralbank einer Erfolgskontrolle zu unterziehen, muß die Öffentlichkeit nicht wissen, wer im EZB-Rat mit welchem Argument und wie über eine konkrete geldpolitische Maßnahme in der Vergangenheit bei den seinerzeit verfügbaren Informationen abgestimmt hat. Vorgegeben, und zwar durch den Maastrichter Vertrag, ist das Ziel der Geldwertstabilität; die Öffentlichkeit wird die Handlungen der Notenbank letztendlich danach beurteilen, ob dieses Ziel erreicht oder verfehlt wurde, nicht aufgrund der Lektüre von Sitzungsprotokollen.

Zum geldpolitischen Instrumentarium

290. Auf der Ebene des geldpolitischen Instrumentariums ist die Europäische Zentralbank für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik angemessen ausgestattet (Kasten 6). Das vorgesehene Instrumentarium ist funktionell dem sehr ähnlich, das bisher in Deutschland gebräuchlich war. Es bietet die Möglichkeit für eine differenzierte und effektive Handhabung, um auf unterschiedliche monetäre Problemlagen sachgerecht zu antworten und die Geldmengenentwicklung zu verstetigen. Der dezentrale Einsatz der jeweiligen Instrumente durch die nationalen Notenbanken der Euro-Teilnehmerländer sollte keine praktischen Schwierigkeiten bereiten, die Einheitlichkeit der Geldpolitik im Euro-Währungsraum ist gewährleistet und damit auch ihre Wettbewerbsneutralität in regionaler Hinsicht.


Kasten 6

Geldpolitische Instrumente des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB)

Während der Kurs der Geldpolitik für die Europäische Währungsunion künftig durch den EZB-Rat festgelegt wird, sind für die Ausführung der operativen Geldpolitik nach Weisung der Europäischen Zentralbank die Zentralbanken der Teilnehmerländer zuständig. Aufbauend auf den Vorarbeiten des Europäischen Währungsinstituts hat die Europäische Zentralbank einheitliche geldpolitische Instrumente entwickelt, mit denen die nationalen Notenbanken die beschlossene Geldpolitik zu gleichen Konditionen in allen Mitgliedstaaten umsetzen werden. Daneben behält sich die Europäische Zentralbank aber auch vor, in besonderen Situationen selbst von diesen Instrumenten Gebrauch zu machen.

Geldpolitische Instrumente bestehen hauptsächlich in Verfahren, nach denen die nationalen Zentralbanken den Geschäftsbanken im Euro-Währungsraum Zentralbankgeld zur Verfügung stellen. Das wichtigste Instrument des ESZB werden die sogenannten Offenmarktgeschäfte sein. Generell sind dies Transaktionen, bei denen die Geschäftsbanken von den Notenbanken für einen befristeten Zeitraum Zentralbankgeld gegen den Verkauf (mit Rückkaufsverpflichtung) oder die Verpfändung von Wertpapieren oder Devisen erhalten. Die konkrete Ausgestaltung dieser Geschäfte ist vielfältig. Neben befristeten Wertpapiertransaktionen stehen außerdem die Emission von Schuldverschreibungen, Devisenswapgeschäfte, die Hereinnahme von Termineinlagen sowie definitive Käufe und Verkäufe von Wertpapieren zur Verfügung. Die weitaus wichtigste Rolle werden jedoch befristete Wertpapiergeschäfte - entweder als Wertpapierpensionsgeschäfte (Repogeschäfte) oder als Wertpapierkredite - spielen. Diese werden zum großen Teil aus wöchentlich angebotenen Transaktionen mit gewöhnlich vierzehntägiger Laufzeit bestehen. Der hierfür maßgebliche Zinssatz (Refi-Satz) wird als Hauptrefinanzierungszinssatz der Banken eine Signalfunktion für die Ausrichtung der europäischen Geldpolitik darstellen. Daneben werden die Notenbanken monatlich Wertpapiergeschäfte mit dreimonatiger Laufzeit anbieten sowie bei Bedarf zusätzlich kurzfristige Transaktionen von wenigen Tagen Laufzeit durchführen. Als Bietungsverfahren für Zentralbankgeld können bei Offenmarktgeschäften Mengentender oder Zinstender zum Einsatz kommen. Bei Mengentendern (Festzinstender) legt die Europäische Zentralbank Volumen und Zinssatz des ausgeschriebenen Geschäfts im voraus fest und teilt den bietenden Kreditinstituten das ausgeschriebene Tendervolumen zu. Bei Zinstendern (Tender mit variablen Zinssätzen) reichen die Kreditinstitute kombinierte Zins-Mengen-Gebote ein, die von der Notenbank zum jeweils gebotenen Zinssatz bedient werden, bis das ausgeschriebene Volumen erreicht ist. Tenderform sowie Zinskonditionen werden jeweils von der Europäischen Zentralbank festgelegt und von den nationalen Notenbanken übernommen.

Darüber hinaus besitzen die Geschäftsbanken die Möglichkeit, Zentralbankgeld in grundsätzlich beliebiger Höhe zu einem höheren als dem Refi-Satz gegen die Bereitstellung von Sicherheiten zu erhalten (Spitzenrefinanzierungsfazilität). Diese Kredite können bereits nach wenigen Stunden wieder zurückgezahlt werden (Untertageskredite), spätestens sind sie jedoch am nächsten Tag zu tilgen oder zu verlängern (Übernachtkredite). Untertägige Kredite können Geschäftsbanken etwa dann benötigen, wenn sie Zahlungen an andere finanzielle Institute leisten müssen, die höher sind als ihr freies Guthaben bei einer nationalen Zentralbank. Umgekehrt können Banken überschüssige Liquidität bei der Zentralbank zu einem Zinssatz unterhalb des Refi-Satzes anlegen (Einlagefazilität). Der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität wird künftig praktisch die Obergrenze der Geldmarktzinsen darstellen, der Einlagezinssatz die Untergrenze für den Geldmarkt markieren.

Kredite vergibt das ESZB nur gegen die Überlassung oder Beleihung von Wertpapieren oder Devisen als Sicherheiten. Die hierzu geeigneten Wertpapierarten sind explizit benannt. Um Besonderheiten der jeweiligen nationalen Finanzsysteme zu berücksichtigen, werden neben allgemeinen Sicherheiten (Kategorie-1-Sicherheiten) auch solche Sicherheiten akzeptiert, die von den nationalen Zentralbanken länderspezifisch ausgewählt werden (Kategorie-2-Sicherheiten). In ihrer Verwendungsfähigkeit zur Beschaffung von Zentralbankgeld unterscheiden sich die Sicherheiten beider Kategorien jedoch im Grunde genommen nicht.

Zusätzlich zu den genannten Leitzinsen wird, gemäß einem Beschluß des EZB-Rates von Mitte Juli 1998, das Instrument der Mindestreserve eingeführt. Danach müssen die Kreditinstitute auf Einlagen der Nicht-Banken mit einer vereinbarten Laufzeit von bis zu zwei Jahren, auf selbst emittierte Schuldverschreibungen mit einer Laufzeit von bis zu zwei Jahren und auf eigene Geldmarktpapiere, im Prinzip auch auf bestimmte Wertpapierpensionsgeschäfte, Guthaben bei der Zentralbank hinterlegen. Das Mindestreservesoll wird fürs erste bei 2 vH der Reservebasis liegen. Der Reservesatz für Verbindlichkeiten mit einer Laufzeit von über zwei Jahren und für Wertpapierpensionsgeschäfte beträgt vorläufig Null. Die Mindestreserveguthaben werden durch die Europäische Zentralbank verzinst, und zwar in Höhe des Refi-Zinssatzes.


 

Wie bisher bei der Deutschen Bundesbank dürfte künftig im Euro-Währungsraum das - sehr flexible - Instrument der Wertpapierpensionsgeschäfte zentral für die Zinssteuerung am kurzen Ende sein. Alle Notenbanken der Teilnehmerländer haben ausreichend Erfahrung mit Wertpapierpensionsgeschäften. Richtig eingesetzt, insbesondere bei Ausgestaltung als Zinstender mit nur kleinen Veränderungen der Zuteilungssätze für die Hauptrefinanzierungsfazilitäten bei möglichst langer Beibehaltung der Anpassungsrichtung, kann die Europäische Zentralbank mit diesem Instrument eine große Signalkraft für die künftige Entwicklung der Geldmarktzinsen entfachen und über eine Stabilisierung der Erwartungen an den Märkten die Zinsentwicklung im Euro-Währungsraum glätten. Ein weiterer Vorteil dieses Instruments käme in Situationen zur Geltung, in denen der Euro-Währungsraum ungewöhnlich starke Devisenzuflüsse aus dem Ausland verzeichnet. Die Europäische Zentralbank hätte dann, über die Anhebung der Hauptrefinanzierungssätze, ausreichende Möglichkeiten, um ein Übermaß an Liquidität, das Inflationsrisiken birgt, am Geldmarkt abzuschöpfen. Der Steuerbarkeit des Geldmarktes unter den Unwägbarkeiten des neuen geld- und währungspolitischen Regimes dürfte es im übrigen guttun, wenn der Abstand zwischen der Zinsobergrenze (dem Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität) und der Zinsuntergrenze (dem Zinssatz einer Einlagefazilität für die Geschäftsbanken) fürs erste nicht zu eng gehalten wird. Die Notenbank würde die Geldmengenentwicklung zielkonform steuern und könnte gleichzeitig den Gleichgewichtszinssatz am Geldmarkt realisieren, ohne gezwungen zu sein, die Eckzinsen nach oben oder nach unten anzupassen und die Marktteilnehmer im unklaren darüber zu lassen, ob sie in kontraktiver oder in expansiver Richtung tätig wird.

291. Auf Drängen der Deutschen Bundesbank ist das Instrument einer europäischen Mindestreservepflicht für die Geschäftsbanken aufgenommen worden. Welches Gewicht dieses Instrument in der gemeinsamen Geldpolitik im Vergleich zu den drei Leitzinsen haben wird, muß man abwarten. Grundsätzlich ist die Mindestreserve ein Mittel zur Stabilisierung der Geldnachfrage. Sie würde - verstärkt - gebraucht, wenn in Zukunft als Folge einer durchgreifenden Änderung der Zahlungsgewohnheiten der Wirtschaftssubjekte (besonders in Verbindung mit weiteren Innovationen im Zahlungsverkehr) der Bargeldumlauf im Euro-Währungsraum so schrumpfen sollte, daß der Zentralbankgeldbedarf der Banken anders, nämlich über Mindestreservepflichten erzeugt werden muß, damit die Europäische Zentralbank ihre geldpolitischen Absichten überhaupt durchsetzen kann und vorangekündigte Geldmengenziele glaubwürdig sind. Danach sieht es aus heutiger Sicht nicht aus. Dieses Instrument hat daher eher Vorsorgecharakter, und zum Start der gemeinsamen Währung sind die Mindestreservesätze zu Recht sehr niedrig angesetzt worden. Somit braucht man nicht allzu große Befürchtungen zu haben, der Euro-Währungsraum könne im Wettbewerb mit anderen, mindestreservefreien Finanzplätzen (innerhalb der Europäischen Union besonders London) benachteiligt sein; die vorgesehene Verzinsung von Mindestreserveguthaben wird etwaige wettbewerbsverzerrende Wirkungen ohnehin in Grenzen halten.

292. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der internationalen Finanzkrise wird die Frage diskutiert, ob die Bankenaufsicht im Euro-Währungsraum ausreichend ist, um zu vermeiden, daß eventuelle Schieflagen einzelner Kreditinstitute den gemeinsamen europäischen Geld- und Kapitalmarkt erschüttern. Bankenaufsichtsrechtliche Regulierungen gibt es in allen Euro-Teilnehmerländern. Sie haben sich bewährt. Doch sie unterscheiden sich formal und materiell; in einigen Ländern, darunter Frankreich und Italien, sind die Notenbanken für die Überwachungsaufgaben zuständig, in anderen, wie Deutschland und Österreich, gibt es eigene Regulierungsbehörden.

Daß die Bankenaufsicht im Euro-Währungsraum unterschiedlich geregelt ist, erscheint uns nicht sinnvoll. Immer mehr Kreditinstitute werden ihre Geschäfte europäisch ausrichten und betreiben. Von daher sollte auch die Aufsicht einheitlich, eine fortlaufende Beurteilung der Bonitätslage der Banken nach gleichen Kriterien möglich sein. Die einschlägigen Bestimmungen des Maastricht-Vertrages (Artikel 105 Abs. 5 EGV) sind sehr allgemein gehalten. Der Sachverständigenrat schlägt vor, daß die Bankenaufsicht zwischen den Euro-Teilnehmerländern harmonisiert und materiell die Kompetenz auf die Europäische Zentralbank und damit auf eine unabhängige Institution übertragen wird. Nach dem Vertrag ist das möglich, die Entscheidung sollte rasch herbeigeführt werden. Das ordnungspolitische Grundprinzip muß klar sein: Die Geschäftsbanken können nicht davon ausgehen, im Insolvenzfall automatisch Hilfe zu bekommen. Bei einem Liquiditätsengpaß hingegen haben die Institute die Möglichkeit, einen Kredit im Rahmen der Spitzenrefinanzierungsfazilität in Anspruch zu nehmen. Die Europäische Zentralbank sollte als wirklicher "lender of last resort" nur einspringen, wenn Insolvenzen die Funktionstüchtigkeit des Kredit- und Finanzsystems im Euro-Währungsraum ernsthaft gefährden würden, und dann auch nur zu Konditionen, die sie selbst nach eigenem Ermessen festlegt. Um bei Ausübung dieser Funktion nicht in Widerspruch zur eigenen geldpolitischen Konzeption zu geraten, muß die Europäische Zentralbank dafür Sorge tragen, daß die durch eventuelle Liquiditätshilfen herbeigeführte, potentiell inflationäre Ausweitung der Euro-Zentralbankgeldmenge möglichst rasch durch eine Verminderung der Kredite an die Geschäftsbanken neutralisiert wird. Das Instrument der Hauptrefinanzierungsfazilität bietet dank der vorgesehenen kurzen Laufzeiten für die Wertpapierpensionsgeschäfte die Möglichkeit dazu.

293. Für eine wirksame europäische Geldpolitik sind entscheidende Voraussetzungen auf der konzeptionellen und der instrumentalen Ebene geschaffen worden. Dabei ist allerdings zu beachten, daß mit dem Einstieg in die gemeinsame Währung geldpolitisches Neuland betreten wird. Der Übergang kann einigermaßen reibungslos verlaufen, es kann aber auch unvorhergesehene Reaktionen der Märkte auf geldpolitische Maßnahmen geben. Die Europäische Zentralbank muß sich darauf einstellen, notfalls auf der Handlungsebene zu experimentieren, ihren Auftrag, den Euro-Geldwert stabil zu halten, darf sie aber nicht aus dem Blick verlieren. Um so wichtiger ist es, daß in den anderen großen Politikbereichen den veränderten monetären Bedingungen der Europäischen Währungsunion in verantwortlicher Weise Rechnung getragen und alles vermieden wird, was den Stabilitätsauftrag der neuen Notenbank konterkarieren könnte. Herausforderungen für die Finanzpolitik und die Lohnpolitik zeigen wir in den folgenden Abschnitten auf.

 

III. Finanzpolitik in der Europäischen Währungsunion

 

294. Durch den Beginn der Europäischen Währungsunion ändern sich die Bedingungen für die nationale Finanzpolitik. Vieles war im Vorfeld angelegt, mit dem 1. Januar 1999 bekommen diese Veränderungen einen definitiven Charakter. Dies verlangt grundsätzliche Erörterungen über die strategische Orientierung der Finanzpolitik.

 

- Mit der Vergemeinschaftung der Geldpolitik kann in diesem Politikbereich nationalen Besonderheiten und Wünschen nicht mehr Rechnung getragen werden. Bei unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungen in den Ländern der Europäischen Währungsunion kann sich eine für das gesamte Währungsgebiet angemessene Geldpolitik für einige Länder als zu restriktiv, für andere als zu expansiv erweisen. Daraus ergeben sich erhöhte konjunkturpolitische Anforderungen an die Finanzpolitik.

 

- Durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt sind der Kreditfinanzierung der staatlichen Haushalte Grenzen gesetzt, die nur bei besonders schweren Rezessionen und bei Naturkatastrophen überschritten werden dürfen; für die konjunkturelle Normallage soll ein ausgeglichenes Budget oder sogar ein Haushaltsüberschuß realisiert werden. Daraus ergeben sich strenge konsolidierungspolitische Anforderungen an die Finanzpolitik.

 

- Die Währungsintegration verstärkt den mit dem Binnenmarkt-Projekt eingeleiteten Prozeß der Intensivierung des Wettbewerbs, denn es vermindern sich dauerhaft die Kosten grenzüberschreitender Transaktionen. Der intensiver werdende Wettbewerb auf den Faktor- und Gütermärkten beschleunigt den Strukturwandel und verschärft auch den Wettbewerb der Steuersysteme und der staatlichen Bereitstellung der Infrastruktur. Aus der Notwendigkeit, die Anpassungsflexibilität der Volkswirtschaft entsprechend zu steigern, ergeben sich weitgehende angebotspolitische Anforderungen an die Finanzpolitik.

 

Grenzen antizyklischer Finanzpolitik beachten

 

295. Wenn es den Mitgliedsländern der Währungsunion gelingt, in der konjunkturellen Normalsituation ausgeglichene Haushalte vorzulegen, wie es im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehen ist, dann eröffnen sich für den Fall einer Rezession erhebliche Spielräume für die Finanzpolitik. Im Falle einer Rezession könnte eine Defizitquote bis zu 3 vH - bei einer schweren Rezession sogar darüber hinaus - in Anspruch genommen werden, was in Deutschland derzeit einem Betrag von rund 110 Mrd DM entspräche. Das wird in jedem Fall ausreichend sein, um die automatischen Steuermindereinnahmen und Ausgabenerhöhungen, die bei rezessiver Entwicklung zu erwarten sind, zuzulassen; die so bedingten konjunkturellen Defizite könnten also und sollten grundsätzlich auch akzeptiert werden. Im Falle eines drastischen Nachfragerückgangs wäre auch eine antizyklische Finanzpolitik über diskretionäre Ausgabenerhöhungen und Steuersenkungen finanzierbar. Allerdings sind dabei Grenzen zu beachten.

 

296. Gegen eine Stabilisierungspolitik über "deficit spending" bestehen Bedenken, die der Sachverständigenrat wiederholt vorgetragen hat (JG 97 Ziffern 296 ff.). Sie ist vom Ansatz her nur dann vertretbar, wenn die Störungen im Wachstumsprozeß eindeutig durch Nachfrageschwankungen verursacht sind. Eine solche Nachfragepolitik stößt zudem auf erhebliche Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung. Sollen durch diskretionäre Eingriffe Nachfrageimpulse vermittelt werden, so müssen sie nach Zeit und Umfang richtig dosiert werden, was angesichts der relativ langen Entscheidungs-, Handlungs- und Wirkungsverzögerungen außerordentlich schwer ist. Das kann - wie die Erfahrung zeigt - dazu führen, daß statt der gewünschten Stabilisierung eine Destabilisierung eintritt.

 

Zudem müssen bei einer antizyklischen Finanzpolitik die Spielregeln in dem Sinne eingehalten werden, daß nicht nur bei Nachfrageschwäche positive Nachfrageimpulse geschaffen werden, sondern daß bei verbesserter Konjunkturlage auch dämpfend auf die Nachfrage eingewirkt wird, konkret: Es müssen Überschüsse im Haushalt gebildet werden, die zur Rückzahlung von Schulden zu nutzen sind. Dies fällt im politischen Prozeß schwer, so daß antizyklische Finanzpolitik oft asymmetrisch eingesetzt wird. Das dürfte in einer Hochkonjunktur die Verwirklichung der Ziele des Stabilitäts- und Wachstumspakts erschweren. Ausufernde Defizite und wachsende Schulden engen zukünftige Handlungsspielräume ein und haben negative Auswirkungen auf die Erwartungen der Marktteilnehmer. Sofern man eine antizyklische Politik betreibt, sollte das dazu eingesetzte Instrumentarium entsprechend ausgestaltet sein: Änderungen bei den öffentlichen Einnahmen und den öffentlichen Ausgaben sind zeitlich zu begrenzen und in ihrem Volumen an Indikatoren zu binden, die den Konjunkturverlauf widerspiegeln. Anstelle einer strengen Regelbindung wäre auch an den Einsatz von Eventualhaushalten zu denken, die für alternative konjunkturpolitische Szenarien aufgestellt werden und über einen voraus festgelegten Zeitraum auszugleichen sind.

 

297. Die Erfolgsaussichten einer nationalen antizyklischen Finanzpolitik sind in der Währungsunion zusätzlich stark eingeschränkt. Nachfragestimulierende Maßnahmen in einem Land verfehlen ihren Zweck, wenn die zusätzliche Nachfrage nicht durch inländische Produktion, sondern durch Importe gedeckt wird. Damit ist zu rechnen, weil es aufgrund der monetären Integration zu einer weiteren Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen den Teilnehmern kommen wird. Insbesondere kleine Länder mit relativ hoher Importquote werden deshalb möglicherweise trotz bestehender Spielräume zu einer Nachfragepolitik gar nicht dazu bereit sein: Sie müssen die Kosten eines solchen Programms tragen, die Nutzen aber mit anderen teilen. Von daher mag ein Druck entstehen, konjunkturpolitische Kompetenzen auf die Zentralebene zu übertragen. Davor muß gewarnt werden: Der EU- Gesamthaushalt ist dafür nicht geeignet, weil das Ausgabenvolumen auf 1,27 vH in Relation zum gesamten nominalen Bruttosozialprodukt der Mitgliedsländer begrenzt ist und der Haushalt für alle 15 Mitgliedsländer und nicht nur für die 11 Teilnehmer an der Währungsunion gilt. Zudem kennt der EU-Haushalt keine Kreditfinanzierung, die jedoch für eine antizyklische Konjunkturpolitik unabdingbar wäre. Eine Ausweitung und partielle Kreditfinanzierung des EU-Haushalts sollte aber unter keinen Umständen zugelassen werden (JG 95 Ziffer 445).

 

298. Das mag zu der Forderung führen, dann wenigstens eine Koordinierung der Finanzpolitik in der Währungsunion anzustreben. Artikel 99 Abs. 1 EG-Vertrag sieht vor, daß die Mitgliedsländer ihre Wirtschaftspolitik koordinieren, um zur Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft beizutragen. Solange die nationalen Konjunkturen in den Teilnehmerländern der Währungsunion asynchron verlaufen, lassen sich nationale Finanzpolitiken, soweit sie auf die Konjunktur bezogen sind, nicht koordinieren. Sie müssen sich entgegengerichtet entwickeln. Bei gleicher Konjunkturlage sind gleichgerichtete Maßnahmen angezeigt. Hierzu mag es hilfreich sein, daß die finanzpolitischen Entscheidungsträger in den einzelnen Ländern von einem einheitlichen Diagnosebild ausgehen und sich auch über die Zielsetzungen der Finanzpolitik einig werden. Gegen eine solche Koordinierung in der Orientierung spricht nichts (JG 97 Ziffer 417). Über den Stabilitäts- und Wachstumspakt und über Maßnahmen der Steuerharmonisierung sind schon heute Obergrenzen für die Kreditaufnahme und Mindeststeuersätze (zum Beispiel bei der Mehrwertsteuer) vereinbart. Darüber hinaus sollte allerdings die Koordinierung des finanzpolitischen Instrumentariums nicht gehen, jedenfalls solange nicht, wie es der Europäischen Union an der demokratischen Legitimierung fehlt, also noch keine politische Union besteht. Es bleibt dabei: Finanzpolitik sollte in der Währungsunion in nationaler Autonomie bleiben.

 

Strenge Konsolidierungsanforderungen

 

299. Mit der Entscheidung für die Währungsunion wird die Beobachtung der fiskalischen Konvergenzkriterien nicht obsolet werden. Da die nationale Kompetenz in der Finanzpolitik aufrechterhalten bleibt, kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen gemeinsamer Geldpolitik und nationaler Finanzpolitik kommen. Letztere kann auf die für eine gemeinsame Geldpolitik entscheidende Zielgröße, die Preisniveaustabilität, wirken, zum Beispiel wenn die nationalen Haushalte übermäßige Defizite aufweisen und dies Regierungen veranlaßt, eine laxe Geldpolitik einzufordern, in der Hoffnung, sich durch etwas mehr Inflation real von Zinslasten zu befreien. So wird weiterhin zu kontrollieren sein, ob die Verschuldung der Teilnehmerstaaten in dem Rahmen bleibt, der zu Beginn der Währungsunion durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt verbindlich abgesteckt worden ist. Im Jahre 1998 wird die Haushaltssituation der meisten Mitgliedsländer der Europäischen Union aller Voraussicht nach besser ausfallen als im Referenzjahr 1997 (Tabelle 71); hiermit wird eine weitere Senkung des öffentlichen Schuldenstands in fast allen Ländern einhergehen. Allerdings hat sich die Defizitreduzierung nicht in dem Maße fortgesetzt, wie in den Jahren zuvor. Angesichts der in den meisten Ländern anhaltenden konjunkturellen Erholung hätte der Rückgang der Defizite jedoch höher sein müssen, um einen durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt geforderten ausgeglichenen Haushalt in einer konjunkturellen Normallage zu erreichen. Werden in einer konjunkturellen Aufschwungsphase nicht ausreichende Konsolidierungsschritte getan, so stehen in gesamtwirtschaftlichen Schwächeperioden zu geringe Spielräume für die konjunkturelle Verschuldung zur Verfügung. Noch ein weiteres
kommt hinzu: Die öffentlichen Finanzen stehen vor großen strukturellen Herausforderungen, insbesondere durch die demographische Entwicklung; Maßnahmen zur Bewältigung dieser Aufgaben sind bisher nur in wenigen Staaten eingeleitet worden.

Tabelle 71 nicht eingebunden

300. Im Stabilitäts- und Wachstumspakt ist vorgesehen, daß die Mitgliedsländer mittelfristig ausgeglichene Haushalte oder gar Budgetüberschüsse anstreben sollen. Eine Defizitquote von 3 vH darf nur überschritten werden, wenn ein außergewöhnliches Ereignis (zum Beispiel eine Naturkatastrophe) oder eine schwere Rezession (Sinken des realen Bruttoinlandsprodukts jahresdurchschnittlich um mehr als 2 vH) vorliegt. Bei einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 0,75 vH und 2 vH entscheidet der Ministerrat, ob ein "übermäßiges" Defizit besteht. Für den Fall, daß das Bruttoinlandsprodukt um weniger als 0,75 vH sinkt, haben sich die Mitgliedsländer verpflichtet, "in der Regel" keine Ausnahmesituation für sich geltend zu machen. Wird vom Ministerrat ein übermäßiges Defizit festgestellt, setzt ein mehrstufiges Verfahren ein, in dessen Verlauf zunächst Maßnahmen zur Korrektur des Defizits ergriffen werden können. Gelingt das nicht, dann soll es zu Sanktionen kommen: Zunächst sind unverzinsliche Einlagen zu leisten, die - wenn das Defizit nicht abgebaut wird - nach zwei Jahren in Geldbußen umgewandelt werden.

 

301. Allerdings enthält der Stabilitäts- und Wachstumspakt - anders als vom Sachverständigenrat angemahnt (JG 96 Ziffer 364) - keinen Automatismus. Es muß politisch entschieden werden, ob im konkreten Fall ein übermäßiges Defizit vorliegt und ob Sanktionen ergriffen werden sollen. Deshalb bleibt vorerst abzuwarten, ob es gelingt, dauerhaft übermäßige Defizite zu vermeiden und damit auch effektive Schuldenbegrenzungen für die Mitgliedsländer der Währungsunion durchzusetzen. Feststeht aber schon heute, daß es mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zum ersten Mal gelungen ist, daß sich Nationalstaaten in einem Vertragswerk freiwillig bereit erklärt haben, Einschränkungen ihrer Budgethoheit hinzunehmen, sich einer supranationalen Überwachung ihrer Haushalte zu unterwerfen und sogar Sanktionen zu akzeptieren. Insoweit dürfte ein wirksamer Stabilitäts- und Wachstumspakt eine effizientere Kreditbegrenzung darstellen, als sie derzeit über Artikel 115 Abs. 1 GG und entsprechende Vorschriften in den Verfassungen der deutschen Bundesländer angestrebt wird.

 

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sieht zudem andere Kreditbegrenzungen vor, als es den Konsolidierungsvorstellungen des Sachverständigenrates entsprechen würde. Konsolidierung heißt für uns (mittelfristiger) Abbau des strukturellen Defizits. Konjunkturell bedingte und investitionsorientierte Verschuldung werden dagegen zugelassen. Wenn für die konjunkturelle Normalsituation die Teilnehmer an der Währungsunion ausgeglichene Haushalte oder sogar Haushaltsüberschüsse anstreben sollen, dann darf es offenbar eine investitionsorientierte Verschuldung - wie sie in unserer Konzeption des strukturellen Defizits zur Ermittlung der dauerhaft zulässigen Kreditaufnahme dient - gar nicht geben. Um den Stabilitäts- und Wachstumspakt einheitlich in allen Ländern anwenden zu können, ist indes das Defizitkriterium des Maastricht-Vertrages maßgeblich, dabei sollte es nun auch bleiben.

 

Allerdings muß festgelegt werden, wann von einer konjunkturellen Normalsituation die Rede sein soll. In der Logik des Stabilitäts- und Wachstumspakts müßte diese an einer bestimmten Rate für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts festgemacht werden. Nach unseren Vorstellungen wäre eine Normalauslastung des Produktionspotentials zu definieren. Auch das wird wegen der Schwierigkeiten einer einheitlichen Ermittlung des Produktionspotentials in allen Teilnehmerländern einen erheblichen Spielraum für Interpretationen und politische Auseinandersetzungen eröffnen. Man sollte sich deshalb auf eine Definition der konjunkturellen Normalsituation einigen.

 

Nur wenn die Verschuldungsmöglichkeiten begrenzt werden und die Spielräume für Steuererhöhungen aus noch darzulegenden Gründen eher eng gezogen sind, stehen die Euro-Teilnehmerländer vor der Notwendigkeit, das Tempo bei den Staatsausgaben zu bremsen und die Staatsquote (Staatsausgaben in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt) zu reduzieren. Insoweit würde auch in Deutschland das geschehen, wofür der Sachverständigenrat seit Jahren nachdrücklich plädiert. Bedingung ist freilich, daß die Bundesregierung und die anderen Regierungen den Stabilitäts- und Wachstumspakt konsequent anwenden.

 

Währungsunion als Transferunion?

 

302. Zu einer konsequenten Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts gehört, daß kein Land und auch nicht die Gemeinschaft für die Schulden eines einzelnen Landes haften oder höhere Transferzahlungen übernehmen muß. Der erste Fall ist im Vertrag ausgeschlossen worden (Artikel 103 Abs. 1 EGV). Dort wird der Haftungsausschluß geregelt. Allerdings bleibt fraglich, ob diese Vorschrift eingehalten werden kann, zumal wenn ein einzelnes Land in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. Immerhin verlangt Artikel 2 EG-Vertrag, "die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern". Daneben wird nach Artikel 100 Abs. 2 EG-Vertrag einem Mitgliedstaat finanzielle Hilfe in Aussicht gestellt, wenn er "aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht" ist. Von daher kann schon politischer Druck auf die Gemeinschaft entstehen, den Haftungsausschluß in seiner Wirkung aufzuheben und Transferzahlungen zu leisten.

 

Ursachen für zunehmende Transfers werden auch in den realwirtschaftlichen Unterschieden in den einzelnen Teilnehmerländern gesehen. Auf externe Angebots- und Nachfragestörungen reagieren die einzelnen Volkswirtschaften unterschiedlich. Da Wechselkurse und Zinsen als Anpassungsinstrumente in der Währungsunion nicht mehr zur Verfügung stehen, müssen unterschiedliche realwirtschaftliche Entwicklungen über die Mobilität von Gütern und Produktionsfaktoren und über die Flexibilität der Preise ausgeglichen werden. Die auf den Arbeitsmärkten der Europäischen Union bestehenden Mobilitätsbarrieren und die mangelnde Flexibilität der Löhne dürften eine marktmäßige Anpassung behindern - dies um so mehr, wenn - wie auch von der neuen Bundesregierung angestrebt - eine Europäisierung der Beschäftigungspolitik und der Sozialpolitik verwirklicht würde. In diesem Fall ist mit politischem Druck in Richtung auf die Ausweitung von Transferzahlungen zu rechnen (JG 97 Ziffer 414).

 

303. Bisher versichern alle Politiker, es werde im Zuge der Währungsunion nicht zu zusätzlichen Transfers kommen. Das bleibt vorerst nur zu hoffen, zumal ansonsten mit weiteren Belastungen des öffentlichen Haushalts in Deutschland zu rechnen wäre. Ohnehin ist der Bundeshaushalt schon heute mit hohen Zahlungen belastet. Die neue Bundesregierung strebt deshalb - wie bereits ihre Vorgängerin - eine Senkung des deutschen Beitrags zum EU-Haushalt an. Im Oktober 1998 hat die Kommission der Europäischen Union Modelle für eine Reform des Finanzierungssystems zur Diskussion gestellt. Dabei werden verschiedene Wege erörtert: Kappung des Nettobeitrags (Differenz zwischen Beiträgen und Rückflüssen), Reformen der Ausgabenpolitik und Änderungen im Finanzierungssystem. Wie bereits bei früherer Gelegenheit (JG 94 Ziffer 316) im einzelnen dargestellt, sind Definition und Aussagekraft des Nettobeitrags problematisch, so daß eine Diskussion um die Kappung dieser Größe letzten Endes ergebnislos bleiben wird. Wenn die Bundesregierung die finanziellen Belastungen aus der Europäischen Union reduzieren will, dann sollte sie eine andere Strategie betreiben. Dabei müßte folgendes erreicht werden:

 

- Die Haushaltsbegrenzung (derzeit 1,27 vH in Relation zum nominalen EU-Bruttosozialprodukt) darf nicht ausgeweitet werden - auch nicht im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union. Nur eine Rückführung des Haushaltsvolumens verspricht fühlbare finanzielle Entlastung für Deutschland.

 

- Eine Reform der Ausgabenpolitik, insbesondere eine Reform der Agrarpolitik und der Strukturpolitik, muß angegangen werden - mit dem Ziel, diese Ausgaben zu reduzieren. Dabei müßte auch eine "Renationalisierung" von Teilbereichen dieser beiden Politikfelder geprüft werden. Eine nationale Eigenbeteiligung an den Transfers über den Agrarhaushalt dürfte ein geeigneter Weg sein.

 

Erst wenn auf diesem Weg eine Änderung auf der Ausgabenseite des Haushalts erreicht worden ist, könnte man die Gestaltung des Einnahmensystems angehen. Dabei müßten zunächst sämtliche Sonderregelungen zugunsten des Vereinigten Königreichs abgeschafft werden. Im übrigen wird man noch auf lange Sicht im Prinzip beim System der am Bruttosozialprodukt der Mitgliedsländer orientierten Finanzbeiträge bleiben müssen.

 

Sicherung des steuerpolitischen Handlungsspielraums

 

304. Wenngleich die Finanzpolitik in nationaler Kompetenz verbleiben soll, gibt es neben der Defizitbegrenzung heute schon wesentliche Einschränkungen der nationalen Autonomie, nämlich bei der Besteuerung. In manchen Bereichen ist vertraglich eine Harmonisierung vereinbart worden (ex ante- Harmonisierung), in anderen hat der Steuerwettbewerb zur Angleichung in den steuerlichen Regelungen geführt (ex post-Harmonisierung). Bei den indirekten Steuern (der Umsatzsteuer und der speziellen Verbrauchssteuern) hat die Europäische Union auf ex ante-Harmonisierung gesetzt. Bei den direkten Steuern (insbesondere der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer) ist man dagegen über Einzelmaßnahmen und Absichtserklärungen nicht hinausgekommen.

 

305. Bereits im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat man sich hinsichtlich der indirekrekten Steuern auf ein einheitliches Erhebungsverfahren dieser Steuern im zwischenstaatlichen Warenverkehr geeinigt, nämlich auf das - auch international übliche - Bestimmungslandprinzip. Demnach sind inländische Güter beim Export von der inländischen Steuer zu entlasten (Exportentlastung) und ausländische Güter beim Import mit der inländischen Steuer zu belasten (Importbelastung). Selbst bei unterschiedlicher Besteuerung im Inland und im Ausland kann es bei diesem Erhebungsverfahren keine steuerlich bedingten Wettbewerbsverzerrungen geben: Miteinander konkurrierende Güter sind stets mit der gleichen Steuer belastet - gleichgültig in welchem Land sie hergestellt werden. Das Bestimmungslandprinzip sichert Wettbewerbsneutralität und nationale Autonomie in der Besteuerung. Eine Harmonisierung der Besteuerung ist insoweit nicht erforderlich; daß sie dennoch durchgeführt worden ist (Bemessungsgrundlage, Anzahl der Steuersätze, Mindestsätze) erklärt sich aus anderen Gründen als dem der Wettbewerbsneutralität. Die deutsche Mehrwertsteuer muß deshalb auch - entgegen vieler Äußerungen in Politik und Wirtschaft - aus Gründen des Europäischen Binnenmarktes oder der Europäischen Währungsunion nicht angehoben werden.

 

Auch wenn - wofür der Sachverständigenrat wiederholt plädiert hat (zuletzt JG 94 Ziffern 300 ff.) - zum Gemeinsamer-Markt-Prinzip (Erhebung der Umsatzsteuer im Ursprungsland mit Vorsteuerabzug "über die Grenze") übergegangen würde, bleiben die Wettbewerbsneutralität und die Steuerautonomie bei der Umsatzsteuer erhalten. Einer Harmonisierung der Steuersätze bei der Umsatzsteuer bedarf es jedenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsneutralität und der gemeinsamen Währung in Europa. Im Gegenteil: Man sollte gerade bei dieser vom Aufkommen her beachtlichen Steuer den einzelnen Staaten nationale Gestaltungsspielräume belassen, um unterschiedlichen gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen im Euro-Währungsraum besser begegnen und divergierende wirtschaftspolitische Ziele verfolgen zu können.

 

306. Die Situation bei den direkten Steuern, vor allem bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer, sieht dagegen völlig anders aus. Die nationalen Steuersysteme - so auch in Deutschland - enthalten Elemente sowohl des Wohnsitzlandprinzips als auch des Quellenlandprinzips (Kasten 7). Bei internationalen Einkommen hat das zur Folge, daß es vielfach zur Doppelbesteuerung, oft aber auch zur Steuerfreiheit kommen kann. Dadurch wird ein Anreiz geschaffen, entweder den Wohnsitz (Unternehmenssitz) oder die Steuerbemessungsgrundlage (insbesondere das Kapital) ins Ausland zu verlagern, um der inländischen Besteuerung zu entgehen. Zwar wird mit einer Fülle von bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen versucht, dem zu begegnen und die Steueransprüche der einzelnen Länder gegeneinander abzugrenzen und durchzusetzen, gelungen ist dies jedoch höchstens in Ansätzen. Solange auch nur Elemente der Quellenlandbesteuerung erhalten bleiben oder das Wohnsitzlandprinzip nicht konsequent durchgesetzt werden kann, wird es je nach Grad der internationalen Faktormobilität zu einem Steuerwettbewerb kommen: Die steuerpolitische Autonomie der einzelnen Länder wird dadurch unterlaufen, und es werden Forderungen laut, die Steuern international zu harmonisieren oder doch wenigstens Mindeststeuern einzuführen. Die neue Bundesregierung hat sich vorgenommen, eine europäische Regelung in diesem Bereich herbeizuführen.


Kasten 7

Für den Steuerwettbewerb bedeutsame institutionelle Regelungen

 

Die Souveränität der Staaten begründet ihre Möglichkeit, Steuern zu erheben. Die Grundlage der bestehenden steuerrechtlichen Systeme bildet dabei das Territorialprinzip, wonach eine Steuerpflicht dann besteht, wenn persönliche oder sachliche Anknüpfungspunkte in dem Territorium existieren.

Steuerpflicht auslösende Tatbestände können beispielsweise der inländische Wohnsitz des Steuerpflichtigen sein oder die Einkommensentstehung im Inland (Quellenlandprinzip). Bei einem an die Person anknüpfenden Steuertatbestand wird im allgemeinen die Leistungsfähigkeit dieser Person bei der Bestimmung der Steuerlast zugrundegelegt, was nicht nur eine Berücksichtigung der inländischen, sondern auch der relevanten ausländischen Steuertatbestände erfordert (Wohnsitzlandprinzip).

In Deutschland wird das Einkommen von unbeschränkt Steuerpflichtigen (Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland bei natürlichen Personen, Geschäftsleitung oder Sitz im Inland bei juristischen Personen) gemäß dem Wohnsitzland, also unter Einbeziehung aller Einkommen (Welteinkommen), besteuert, bei beschränkt Steuerpflichtigen (weder Gebietsinländer noch Inlandsgesellschaften) werden dagegen allein die inländischen Einkünfte gemäß dem Quellenlandprinzip belastet.

Staaten können nach dem Quellenlandprinzip als auch nach dem Wohnsitzlandprinzip steuerrechtlich den territorialen Bezug herstellen. Es entsteht immer dann eine Doppelbesteuerung der Zensiten, wenn ein Steuergegenstand bei demselben Steuerpflichtigen in mehr als einem Land mit vergleichbaren Steuern belegt wird. Doppelbesteuerungsabkommen organisieren dann - als völkerrechtliche Verträge im Sinne des Artikels 59 Abs. 2 GG - das Zusammenwirken nationaler Steuersysteme; ihre Bestimmungen haben gemäß § 2 Abgabenordnung Vorrang gegenüber deutschem Recht. Auf Basis von Ansässigkeitskriterien regeln sie die Verteilung von Steuertatbeständen und Steueraufkommen zwischen Staaten durch (wechselseitige) Beschränkung von Besteuerungsrechten. Damit werden keine neuen Besteuerungsrechte geschaffen, vielmehr soll eine Doppelbesteuerung der Zensiten vermieden werden. Grundsätzlich kommen hierfür folgende Methoden in Frage:

- Nach der Anrechnungsmethode wird im Wohnsitzland die im Quellenland abgeführte Steuer auf die Steuerschuld angerechnet. Dabei wird zwischen einer Vollanrechnung und einer Teilanrechnung unterschieden; bei letzterer wird die ausländische Steuer nur in der Höhe auf die inländische Steuerschuld angerechnet, wie sie entstanden wäre, wenn die Auslandseinkünfte im Inland besteuert worden wären. Dabei kann die Anrechnung ausländischer Steuern auch länderweise oder einkunftsartabhängig begrenzt sein. Bei der Steueranrechnung ergibt sich immer eine Besteuerung des Welteinkommens mindestens in Höhe des Steuersatzes des Wohnsitzlandes.

- Nach der Abzugsmethode wird im Wohnsitzland die Bemessungsgrundlage um die an der Quelle abgeführte Steuer vermindert.

- Nach der Freistellungsmethode stellt entweder das Wohnsitzland die im Ausland liegende Bemessungsgrundlage oder das Quellenland den Steuertatbestand steuerfrei. Dies geschieht mitunter nach der Maßgabe, daß im jeweils anderen Staat eine Besteuerung stattfindet. Die Freistellung kann unbeschränkt oder unter Progressionsvorbehalt vorgenommen werden. So können im Fall der Einkommensbesteuerung die ausländischen Einkünfte im Wohnsitzland zwar steuerfrei belassen werden, wohl aber zur Ermittlung des Steuersatzes auf die inländischen Einkünfte herangezogen werden. In den deutschen Doppelbesteuerungsabkommen dominiert diese Methode, damit die Wettbewerbsfähigkeit der Aktivitäten im Ausland nicht durch die inländische Steuer verzerrt wird.

Die Doppelbesteuerungsabkommen sind in der Regel bilaterale Verträge; die OECD hat hierfür Musterabkommen entwickelt. Für die meisten Einkunftsarten empfehlen diese das Wohnsitzlandprinzip; die Wahl, nach welcher Methode die Doppelbesteuerung vermieden werden soll, ist jedoch den Staaten anheimgestellt. Da in diesen Abkommen (üblicherweise) aber nur die Abgrenzung der Einkünfte, nicht aber die Gewinnermittlungsvorschriften behandelt werden, ist nicht garantiert, daß die Renditen der Investitionen bei inländischen und ausländischen Anlagen nicht verzerrt werden.

Das deutsche Außensteuerrecht als nationales Recht erweitert oder beschränkt auf unterschiedliche Weise den deutschen Steueranspruch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten. Zum einen wird versucht, zur steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit von Investitionen im Ausland beizutragen, indem einseitig über die direkte Anrechnung der ausländischen Steuern, über eine Absetzung der ausländischen Steuern von der Bemessungsgrundlage oder in bestimmten Fällen auch über eine pauschalierte Abgeltung der Steuern auf ausländische Einkünfte eine Doppelbesteuerung vermieden wird (§ 34c EStG). Zum anderen enthält das Außensteuergesetz Regelungen, mit denen über die sogenannte Zugriffsbesteuerung eine Vermeidung inländischer Steuerlast verhindert und eine Gleichmäßigkeit der Besteuerung gewährleistet werden soll:

- Bei der Festlegung von Verrechnungspreisen zwischen international verbundenen Unternehmen in verschiedenen Ländern werden fiktiv marktübliche Konditionen zugrundegelegt, um zu vermeiden, daß inländische Unternehmen mit Hilfe verzerrter Verrechnungspreise Gewinne ins niedriger besteuernde Ausland verlagern.

- Bei einem Wohnsitzwechsel, aber anhaltenden wesentlichen wirtschaftlichen Interessen des Steuerpflichtigen im Inland wird unter bestimmten Voraussetzungen eine sogenannte erweiterte beschränkte Steuerpflicht wirksam, um der Steuerausweichung durch Verlagerung des Wohnsitzes bei unverändertem Ort der Einkunftserzielung entgegenzuwirken.

- Beim Wegzug des Steuerpflichtigen oder der Verbringung von Gegenständen des Betriebsvermögens ins Ausland werden die stillen Reserven erfaßt, die während der im Inland bestehenden Steuerpflicht gebildet wurden.

- Durch die Hinzurechnungsbesteuerung werden Einkünfte, die durch passiven Erwerb (nicht durch aktive Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen) einer niedrig besteuerten (Ertragsteuerbelastung unter 30 vH) ausländischen Gesellschaft erzielt wurden, im Inland besteuert. Damit wird entgegen dem Grundsatz, Gewinne von Kapitalgesellschaften erst nach der Ausschüttung der Einkommensteuer der Gesellschafter zu unterwerfen, die Besteuerung durch eine fiktive Ausschüttung thesaurierter, niedrig besteuerter Gewinne vorverlegt, und zwar auch dann, wenn ein Doppelbesteuerungsabkommen durch Freistellung dem Quellenstaat ausschließlich das Besteuerungsrecht zuweist. Deutsch beherrschte ausländische Kapitalgesellschaften in einem Niedrigsteuergebiet und ohne nennenswerten eigenen Geschäftsbetrieb werden steuerlich negiert. Damit wird gegen Gestaltungsmißbrauch vorgegangen, wie er zum Beispiel in Form von "Briefkastenfirmen" zur Verlagerung von Einkünften in Niedrigsteuergebiete besteht (§ 42 AO).


 

Formen des Steuerwettbewerbs

 

307. Steuerwettbewerb ist der Wettbewerb zwischen Staaten um steuerliche Bemessungsgrundlagen. Instrumente des Steuerwettbewerbs sind Steuersatz und Bemessungsgrundlage, aber auch die Intensität und die Konsequenz, mit der die Steuerbehörden die gesetzlichen Regelungen anwenden. Dieser Steuerwettbewerb kann sich auf verschiedenen Ebenen abspielen:

 

- Arbeitseinkommen wird in der Regel nach dem Wohnsitzlandprinzip besteuert. Eine Reduzierung der Steuerbelastung läßt sich damit im allgemeinen nur durch eine Verlagerung des Wohnsitzes in ein Land mit niedrigeren Steuern erreichen. Wegen der vergleichsweise geringen Mobilität hat der Steuerwettbewerb in diesem Bereich bislang noch eine geringe Bedeutung.

 

- Im Bereich der Sachinvestitionen sind die steuerlichen Regelungen dagegen ein bedeutender Parameter im internationalen Wettbewerb. Durch eine im Vergleich zu anderen Staaten niedrigere Besteuerung von Unternehmensgewinnen können die effektiven Renditen von Sachkapitalinvestitionen in dem betrachteten Land erhöht und zusätzliche Investitionen attrahiert werden. Die deutsche Praxis der Doppelbesteuerungsabkommen bewirkt bei Steuerinländern üblicherweise, daß die im Ausland entstandenen Gewinne nach dem Quellenlandprinzip besteuert und bei der Steuererhebung in Deutschland vollständig oder unter Progressionsvorbehalt freigestellt oder angerechnet werden. Maßgeblich ist bei den Doppelbesteuerungsabkommen im allgemeinen das Betriebsstättenprinzip, wonach das Quellenland nur die der Betriebsstätte in seinem Gebiet zurechenbaren Gewinne besteuern darf.

 

- Die Bewegung von Finanzkapital würde im Rahmen des Steuerwettbewerbs unter idealtypischen Bedingungen keine Rolle spielen, wenn bei der Einkommensbesteuerung das Wohnsitzlandprinzip realisiert wäre; über international differierende Quellensteuersätze könnte die Nach-Steuer-Rendite einer Finanzanlage aus der Sicht eines Investors nicht beeinflußt werden. Allerdings existieren erhebliche Probleme bei der vollständigen Erfassung von ausländischen Zinseinkünften. Es gibt oft keine Kontrollmitteilungen der Banken an die Finanzbehörden, und die Auskunftspflichten zwi-

schen einzelnen Staaten sind nicht umfassend geregelt, so daß gerade ausländische Einkünfte aus Kapitalvermögen relativ leicht der Besteuerung im Wohnsitzland des Steuerpflichtigen entzogen werden können; das Wohnsitzlandprinzip wird somit durchbrochen.

 

Wegen des geringen Informationsflusses zwischen einzelnen Staaten bestehen für die Steuerpflichtigen Anreize, Finanzaktiva in Länder ohne Quellensteuer (oder mit einem niedrigen Quellensteuersatz) zu transferieren. Diese Länder erzielen zwar kein (oder nur ein geringes) Aufkommen aus der Quellensteuer; allerdings können dort positive Beschäftigungswirkungen entstehen, wenn sich zusätzliche Finanzintermediäre zur Verwaltung des zufließenden Kapitals niederlassen. Insbesondere für kleinere Länder kann es so zu durchaus bedeutsamen gesamtwirtschaftlichen Effekten kommen. Im Bereich der Besteuerung der Kapitaleinkünfte besteht damit für die Staaten ein Anreiz für einen Wettbewerb der Steuersätze nach unten. Im Ergebnis führt dies dazu, daß es bei der Kapitaleinkommensbesteuerung nach dem Quellenlandprinzip einen kontinuierlichen Steuersenkungswettlauf geben kann, während eine nach dem Wohnsitzlandprinzip erhobene Steuer nicht effektiv wird.

 

308. Als ein Sonderfall des Steuerwettbewerbs erscheint der direkte Wettbewerb um steuerlich relevante Gewinne, die im Zusammenhang mit besonders standortflexiblen wirtschaftlichen Tätigkeiten entstehen. Dies sind beispielsweise Kapitalbeschaffung, Immobilienverwaltung oder auch Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten, die eigenständigen Gesellschaften in Ländern mit einer nur geringen effektiven Besteuerung dieser Bereiche übertragen werden. Eine räumliche Verlagerung solcher Aktivitäten ist nur mit einem vergleichsweise geringen Investitionsvolumen verbunden. Ist durch Doppelbesteuerungsabkommen eine abschließende Quellenbesteuerung festgelegt, so können die angefallenen Gewinne an die Muttergesellschaft ausgeschüttet werden, ohne daß eine erneute Besteuerung ausgelöst wird. Das steuererhebende Land kann sich - auch bei einer nur äußerst geringen effektiven Besteuerung dieser streng abgegrenzten Unternehmensbereiche - besserstellen, wenn dort die genannten Aktivitäten nur einen kleinen Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Steuerbasis ausmachen, so daß der potentielle Einnahmenverlust durch steuerliche Vergünstigungen im Vergleich zu den zusätzlichen Einnahmen aufgrund attrahierter Bemessungsgrundlagen nur gering ausfällt. Dies gilt insbesondere für kleine Länder. In größeren Ländern kann diese aufkommenserhöhende Wirkung dadurch sichergestellt werden, daß entweder nur für Neuansiedlungen die Sonderregelung gewährt wird oder Inländer von dieser steuerlichen Bevorzugung ausgeschlossen sind. Gegebenenfalls kann zusätzlich ein positiver Arbeitsmarkteffekt dadurch erreicht werden, daß die Inanspruchnahme der steuerlichen Sonderregelung mit einer Mindestanzahl von Beschäftigten verbunden ist. Gerade in kleinen Ländern dürften wiederum diese jeweils nur geringen Beschäftigungseffekte gesamtwirtschaftlich gesehen einen spürbaren Einfluß haben.

 

309. Im Zusammenhang mit der zuvor beschriebenen Form des Steuerwettbewerbs ist es zu einer Diskussion über "faire" und "unfaire" steuerpolitische Praktiken der Länder gekommen. Die Europäische Kommission hat im Dezember 1997 einen Verhaltenskodex zur Besteuerung von Unternehmensgewinnen vorgestellt. Unter anderem sind dort verschiedene Grundsätze angeführt, mit Hilfe derer "schädliche" steuerliche Maßnahmen eines Landes identifiziert werden können. Als Kriterien werden dafür die Diskriminierung der Inländer, die Ablösung der Gewährung steuerrechtlicher Begünstigungen von der tatsächlichen Wirtschaftstätigkeit, die Abweichung von international anerkannten Regeln der Gewinnermittlung und eine mangelnde Transparenz genannt. Im April 1998 hat die OECD ebenfalls einen Katalog zur Identifizierung schädlichen Steuerwettbewerbs veröffentlicht.

 

Betrachtet man verschiedene steuerliche Sonderregelungen innerhalb der Europäischen Union, so erfüllen einige die von der Europäischen Kommission genannten Merkmale von aus Wettbewerbsgründen schädlichen Maßnahmen. Allerdings sind steuerliche Regeln, die im Bereich von verschiedenen Sonderwirtschaftszonen gelten, von der Kommission offiziell als Beihilfen genehmigt worden. Gleichzeitig mit dem Verhaltenskodex wurde daher auch eine Stillhalte- und Rücknahmeverpflichtung vereinbart, wodurch sich die Mitgliedstaaten einerseits verpflichten, keine neuen verzerrenden Maßnahmen in ihr Steuerrecht aufzunehmen, und andererseits zusagen, ihr Steuerrecht hinsichtlich solcher Bestimmungen zu überprüfen und gegebenenfalls so bald wie möglich zu ändern.

 

Die Diskussion um den unfairen Steuerwettbewerb orientiert sich bislang an Regelungen, die den nationalen steuerpolitischen Gestaltungsspielraum nicht einengen. Beim Einsatz der steuerpolitischen Instrumente sollen die Prinzipien der Transparenz und der Gleichbehandlung eingehalten werden, die berechtigterweise an ein konsistentes Steuerreformvorhaben zu stellen sind (JG 96 Ziffern 296 ff.). Grundsätzlich muß darauf geachtet werden, daß die Forderung nach fairem Steuerwettbewerb nicht unangemessenen Harmonisierungsbestrebungen Vorschub leistet.

 

Wie wirksam ist der Steuerwettbewerb?

310. Die Steuersätze sind in fast allen Ländern der Europäischen Union und anderen Industriestaaten in den Jahren von 1986 bis 1997 gesunken (Tabelle 72). Allerdings greift für eine Gegenüberstellung der von Unternehmen zu tragenden Steuerbelastung ein bloßer Vergleich der jeweiligen nationalen Steuersätze zu kurz, da die effektive Steuerbelastung von Unternehmen neben den Steuersätzen von einer Vielzahl anderer Faktoren beeinflußt wird. Zum einen sind die Effekte zu berücksichtigen, die aus der in den betrachteten Ländern unterschiedlichen Berechnungsweise der Bemessungsgrundlage resultieren. Dazu gehören neben unterschiedlichen Abschreibungsregeln und Bewertungsvorschriften auch die gegebenenfalls bestehende Möglichkeit für ein Unternehmen, zwischen verschiedenen Regeln und Vorschriften zu wählen, um die für das spezifische Unternehmen vorteilhafte Alternative anzuwenden. Zum anderen wird die unternehmensspezifische Steuerbelastung auch von anderen ertragsabhängigen Steuern bestimmt, die die betrachteten Länder erheben (so die Gewerbeertragsteuer in Deutschland), wie auch von den ertragsunabhängigen Steuern wie einer Vermögensteuer oder Grundsteuer.

Tabelle 72 nicht eingebunden

311. Der European Tax Analyzer des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung trägt diesen Argumenten Rechnung. Auf Simulationsbasis wird die Steuerbelastung eines identischen Unternehmens bei verschiedenen nationalen Steuersystemen ermittelt; dabei sind für fünf Länder - Deutschland, Frankreich, Niederlande, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten - seit dem Jahre 1995 die jeweils geltenden Steuerregelungen implementiert; neben einer Analyse im Zeitverlauf ist es auch möglich, die Wirkung der Variation einer speziellen, die Steuerschuld mitbestimmenden Einflußgröße zu untersuchen.

Ausgehend von einem speziellen Unternehmen beispielsweise einer bestimmten Größenordnung oder Branche wird mit Hilfe einer Simulation der Einfluß verschiedener nationaler Steuersysteme im Zeitablauf ermittelt. Für das Modellunternehmen mit gegebener Vermögens- und Kapitalausstattung werden jeweils identische Annahmen über die Unternehmenspläne getroffen und auch maßgebliche ökonomische Variablen festgelegt. Um den Einfluß des Steuersystems im Zeitablauf analysieren zu können, werden diese Modellunternehmen über zehn Zeitperioden betrachtet. Dabei werden alle in den fünf Ländern relevanten Unternehmenssteuern einbezogen, jeweils auf Basis des in der gewählten Ausgangsperiode geltenden Steuerrechts, einschließlich der wesentlichen bilanziellen und steuerrechtlichen Wahlmöglichkeiten. Aufgrund der Komplexität des Steuerrechts können freilich nicht sämtliche Bestimmungen berücksichtigt werden. Als Ergebnis wird die absolute Steuerbelastung der Unternehmen ebenso wie deren relative effektive Steuerbelastung (berechnet als Differenz von Vor-Steuer-Eigenkapitalrendite und Nach-Steuer-Eigenkapitalrendite in Relation zu der Vor-Steuer-Rendite) ausgewiesen.

Betrachtet man die Veränderung der Steuerbelastung in den fünf Ländern beispielsweise für ein für Deutschland repräsentatives mittelständisches Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes im Zeitraum von 1995 bis 1998, so kann keine eindeutige Entwicklung festgestellt werden. Die Reihenfolge in der Belastung hat sich kaum verändert. Deutschland und Frankreich sind nach wie vor die Länder mit der höchsten Belastung; es folgen die Vereinigten Staaten und die Niederlande. Das Vereinigte Königreich ist das Land mit der geringsten Belastung. In den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten hat sich die effektive Belastung nicht verändert, in Deutschland und im Vereinigten Königreich ist sie zurückgegangen, in Frankreich dagegen angestiegen. Die Erklärung für den Rückgang in Deutschland liegt darin, daß die Vermögensteuer (seit 1997) nicht mehr erhoben und die Gewerbekapitalsteuer (seit 1998) abgeschafft wurde; als ertragsunabhängige Steuer wird damit in Deutschland allein noch die Grundsteuer erhoben. Weiterhin wurde zu Beginn des Jahres 1998 der Solidaritätszuschlag um zwei Prozentpunkte gesenkt. Die zur Kompensation der Einnahmenausfälle durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer geänderten Regelungen für Rückstellungen aus drohenden Verlusten erhöhen tendenziell die Steuerbelastung der Unternehmen, konnten jedoch in diesem Modell nicht berücksichtigt werden. Die verringerte Steuerbelastung im Vereinigten Königreich geht auf eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes von 33 vH auf 31 vH im Jahre 1998 zurück; eine weitere Verringerung des Steuersatzes auf 30 vH ist bereits beschlossen. Die erhöhte Belastung des französischen Modellunternehmens resultiert aus der (vorübergehenden) Anhebung des Körperschaftsteuersatzes von 331/3 vH auf 412/3 vH (seit 1997). Im Jahre 1999 soll der Körperschaftsteuersatz aber auf 40 vH gesenkt werden.

 

312. Die öffentliche Diskussion über den Steuerwettbewerb wird vielfach durch Befürchtungen bestimmt, die Bereitstellung der Infrastruktur durch den Staat und die Möglichkeit einer steuerfinanzierten Umverteilungspolitik würden in Mitleidenschaft gezogen. Beide Aspekte werden in der wirtschaftstheoretischen Debatte kontrovers diskutiert.

 

- So wird ausgehend von der Annahme, daß bei Kapitalerträgen international das Prinzip der Quellenbesteuerung zur Anwendung kommt, die These abgeleitet, daß ein degenerativer Steuerwettbewerbsprozeß drohe, an dessen Ende das mobile Kapital nicht mehr besteuert werde, sondern nur noch die immobilen Faktoren. Die Finanzierung öffentlicher Güter sei dann gefährdet.

 

In theoretischen Überlegungen wird argumentiert, daß der Staat ein Gut anbiete, dessen Finanzierung voll von den immobilen Faktoren getragen wird. Die immobilen Faktoren würden feststellen, daß die gesamte Steuerlast (einschließlich Zusatzlast) den Nutzen der Bereitstellung dieses Gutes übersteige; infolge dessen käme es zu einem geringeren Güterangebot, als es sich bei Besteuerbarkeit auch der mobilen Faktoren - also unter der Annahme einer geschlossenen Volkswirtschaft - als optimal ergäbe. So käme es zu einer Unterversorgung. Gegen diese Position ist eingewandt worden, daß nicht nur die Steuerlast, sondern auch der Nutzen für den mobilen Faktor zu berücksichtigen ist. Dies ist von besonderer Relevanz beim Infrastrukturangebot, das für sich genommen die Grenzproduktivität des mobilen Faktors positiv beeinflussen kann. Würden dann Äquivalenzsteuern erhoben, so wäre es möglich, die Investoren im Maße ihrer Infrastrukturbeanspruchung zu besteuern.

 

Beide Ergebnisse sind aus anderer Sicht abgelehnt worden. Dabei wird auf ein öffentliches Infrastrukturgut mit Überfüllungserscheinungen abgestellt. Der optimale Steuersatz ist in diesem Fall durch die Höhe der Grenzüberfüllungskosten definiert. Ob es möglich ist, den Faktor Kapital in dieser Höhe an der Finanzierung zu beteiligen, hängt von der Produktionstechnologie ab; bei sinkenden Durchschnittskosten würde sich ein Finanzierungsdefizit ergeben: Die Heranziehung des Faktors Kapital in Höhe der Grenzüberfüllungskosten deckt nicht die durchschnittlichen Bereitstellungskosten des Infrastrukturgutes. Eine Äquivalenzbesteuerung des mobilen Faktors wäre mithin nicht ausreichend. Sind die immobilen Faktoren nicht bereit, daß dadurch entstehende Finanzierungsdefizit auszugleichen, so ergäbe sich eine Unterversorgung. Allerdings - so wird argumentiert - werden sie doch dazu bereit sein, solange das Finanzierungsdefizit kleiner ist als die Lohnsumme. Insofern ergibt sich aus dem Steuerwettbewerb ein Finanzierungsproblem bei der Bereitstellung der Infrastruktur, nicht aber das der Unterversorgung.

 

Diese Argumentation stellt auf theoretische Grenzfälle des öffentlichen Guts ab. Im allgemeinen sind öffentliche Güter nicht durch steigende Skalenerträge gekennzeichnet. Vielmehr wird die Notwendigkeit staatlichen Handelns dann grundsätzlich als begründet angesehen, wenn ein privater Anbieter nicht damit rechnen kann, für die von ihm erbrachten Leistungen ein angemessenes Entgelt zu erhalten, weil der Ausschluß von Nutzern nicht oder nur zu exzessiv hohen Kosten möglich ist (JG 95 Ziffer 305). Gerade in Bereichen, die wie die Telekommunikation, der Schienenverkehr und der Energiesektor zur Infrastruktur im weiteren Sinne gezählt werden können, hat sich gezeigt, daß trotz produktionstechnisch bedingter Unteilbarkeiten Wettbewerb möglich ist, allerdings flankiert von entsprechenden Regelungen.

 

- In der Mobilität des Kapitals und hochqualifizierter Arbeitskräfte wird die Ursache für eine Gefährdung der nationalen Umverteilungssysteme gesehen. Die mit der Umverteilung verbundenen Finanzierungslasten für hochproduktive Faktoren führen dazu, daß aus Ländern mit großer Präferenz für eine Einkommensumverteilung die belasteten Anbieter von Produktionsfaktoren abwandern, so daß schließlich die gewünschte Umverteilung nicht mehr finanziert werden kann. Dieser Prozeß würde noch dadurch verschärft, daß zugleich potentielle Nettoempfänger von Sozialleistungen in das Land mit den höchsten Umverteilungsleistungen zuwandern.

 

In theoretischen Erörterungen wird zumeist vereinfachend von Umverteilungspolitik gesprochen, ohne die konkrete instrumentelle Umsetzung mit in den Blick zu nehmen. Schädlich wäre der Steuersenkungswettbewerb zweifellos dann, wenn dadurch auch effizient gestaltete Systeme der sozialen Sicherung in ihrem Bestand bedroht würden. Ein effizient konstruiertes System müßte klar zwischen den Instrumenten der Risikovorsorge, der Einkommensmindestsicherung und der darüber hinausgehenden Umverteilung unterscheiden (JG 96 Ziffer 459). Sind die großen Einkommensrisiken - Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Alter, Unfall und Arbeitslosigkeit - unabhängig von Umverteilungszielen über Versicherungsinstitutionen abgesichert, und dies soweit wie möglich über Märkte sowie losgelöst vom Arbeitsvertrag, dann kann dafür aus dem Steuerwettbewerb keine Gefährdung resultieren.

 

Eine Einkommensmindestsicherung - in der Bundesrepublik in Form der Sozialhilfe gewährt - erhöht auch die unternehmerische Anpassungsflexibilität, weil durch Gewährleistung von sozialem Frieden die Integration einzelwirtschaftlichen Handelns friktionsloser möglich wird. Notwendige Bedingung ist dafür freilich eine anreizkompatible Gestaltung, so daß sich derjenige besser stellt, der Arbeit aufnimmt, statt Sozialhilfe zu beziehen. In diesem Maße besitzt eine steuerfinanzierte soziale Sicherung Infrastruktureigenschaften, so daß durch eine Äquivalenzbesteuerung auch die mobilen Faktoren zur Finanzierung herangezogen werden können. Insoweit eine steuerfinanzierte soziale Sicherung allokative Verzerrungen korrigiert, beeinflußt sie das Kalkül der Investoren und Kapitaleigner positiv.

 

Anders sieht dies freilich bei einer über die Mindestsicherung hinausgehenden Umverteilung aus. Hier dürfte in der Tat der Steuerwettbewerb einen Druck auslösen, deren Effektivität und Effizienz zu überprüfen. Ob es zu einem vollständigen Abbau solcher Leistungen kommt, erscheint wenig wahrscheinlich. Maßgeblich dürfte dafür die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz der jeweiligen Instrumente sein. Es spricht viel dafür, daß eine Orientierung der sozialen Sicherung an dem Prinzip des fairen Ausgleichs, das stets das Bemühen des Leistungsempfängers einfordert, nach Möglichkeit vom Transfer wieder unabhängig zu werden, auch zur Bestandssicherung unter den Bedingungen des Steuerwettbewerbs beiträgt.

 

Nimmt man alles zusammen, dann erscheinen uns die Befürchtungen, die aus dem Steuerwettbewerb abgeleitet werden, als wenig begründet: Erstens ist darauf hinzuweisen, daß die Mobilität des Kapitals immer noch Grenzen unterliegt, so daß ein Steuersenkungswettbewerb sich ebenfalls nur begrenzt vollziehen kann. Zweitens bezieht sich die Befürchtung, bei der Bereitstellung von Infrastruktur komme es entweder zu einer Unterversorgung oder zu einer ungleichen Verteilung der Finanzierungslasten, nur auf theoretische Grenzfälle, bei reinen öffentlichen Gütern der Infrastruktur überwiegen hingegen die positiven Standortwirkungen. Drittens ist mit Blick auf die steuerfinanzierte Umverteilung festzuhalten, daß wegen der infrastrukturähnlichen Wirkungen einer anreizkompatibel gestalteten Einkommensmindestsicherung für diese eine Bestandsgefährdung plausibel ausgeschlossen werden kann. Viertens muß positiv gewürdigt werden, daß der Steuersystemwettbewerb den Druck stärkt, ineffiziente nationale Lösungen zu überdenken.

 

313. Eine Schlüsselfunktion hat der Steuerwettbewerb als Entdeckungsverfahren für unterschiedliche institutionelle Lösungen in verschiedenen Ländern. Er ist ein wichtiges Instrument zur Bändigung ausufernder Staatstätigkeit. Der institutionelle Wettbewerb verzahnt den Vorgang der Institutionenwahl - durch Wanderung der Steuerbürger zwischen den Systemen - mit dem politischen Wettbewerb - durch den Widerspruch im Rahmen der jeweiligen demokratischen Strukturen. Die Abwanderung der mobilen Faktoren schmälert die Steuerbasis im Abwanderungsland, aus dieser Verschärfung der Budgetrestriktion ergibt sich bei gegebener Ausgabenstruktur eine Stärkung des Widerspruchs gegen bisher verfolgte Politikstrategien. Erreicht der Widerspruch eine kritische Masse, so führt dies zu politischen Reaktionen. So hat der Steuerwettbewerb in diesem Kontext eine Art Scharnierfunktion. Freilich: Auch für den institutionellen Wettbewerb gibt es Grenzen der Wirksamkeit. Diese ergeben sich beispielsweise daraus, daß die Abwanderung aus einem System für den einzelnen mit beachtlichen Kosten verbunden ist. Zu bedenken ist auch, daß die Parteien in der Regel nur Programmpakete anbieten, so daß die Entscheidung, zu wandern oder nicht zu wandern, immer auch eine Abwägung zwischen unterschiedlichen staatlichen Leistungsbereichen erfordert. Gleichwohl: Der durch den Steuerwettbewerb vermittelte Impuls stärkt die Konkurrenzbeziehungen zwischen den politischen Angeboten.

 

Grundsätzlich wird in diesem Kontext auf Erfahrungswissen beruhend unterstellt, daß es auch in demokratischen Systemen schwierig ist, das Regierungs- und Verwaltungshandeln effektiv an die Wünsche der Staatsbürger zu binden. Wegen der hohen Informationskosten einerseits und der nur marginalen Einflußnahme auf das Wahlergebnis andererseits wird die Delegation von Aufgaben und Erfüllungsnormen an Regierung und Verwaltung weniger von den Wahlbürgern und mehr von Interessengruppen bestimmt. Der institutionelle Wettbewerb hilft, dem daraus resultierenden Trend zu einer Ausweitung der Staatstätigkeit entgegenzuwirken.

IV. Lohnpolitik in der Europäischen Währungsunion

314. Mit der vergemeinschafteten Geldpolitik ändern sich in der Europäischen Währungsunion die Ausgangsbedingungen der Lohnpolitik, und zwar aus drei Gründen. Erstens bringt die einheitliche Währung einen intensiveren Wettbewerb auf den Gütermärkten mit sich, denn durch niedrigere Transaktionskosten und durch eine größere Preistransparenz verlieren noch bestehende Marktsegmentierungen an Bedeutung; derzeit noch gegebene Preisdifferenzen werden auf den Märkten durch Arbitrage reduziert. Die größere Preistransparenz bedeutet zwangsläufig eine größere Kostentransparenz und damit auch einen stärkeren Wettbewerb der Arbeitsplätze. Daran kann die Lohnpolitik nicht vorbeigehen. Zweitens entfällt in der Währungsunion der mögliche Puffer von Wechselkursänderungen, auf die in der Vergangenheit zurückgegriffen werden konnte, wenn eine Volkswirtschaft in eine ökonomische Krise geriet. Auch dies hat Konsequenzen für die Lohnpolitik. Drittens können sich, so lautet jedenfalls eine Hypothese, in einem einheitlichen Währungsraum die Erwartungen an die Lohnpolitik und die Verhaltensweisen der Tarifvertragsparteien ändern: Die Menschen können auf eine Angleichung der Löhne drängen, die Tarifvertragsparteien stärker auf die europäische Ebene abstellen.

Zur Orientierung der Tarifpolitik in der Währungsunion

315. Die höhere Preis- und Kostentransparenz erfordert - wenn eine günstige Beschäftigungslage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion erreicht werden soll -, daß die beachtlichen Unterschiede im Niveau der Arbeitsproduktivitäten der Länder von den jeweiligen Tarifvertragsparteien respektiert werden. In der Tat unterscheiden sich die nationalen Arbeitsproduktivitäten erheblich. So lag im Jahre 1997 die Arbeitsproduktivität in einigen Ländern (Belgien, Frankreich) ähnlich hoch wie die in Westdeutschland (Tabelle 73), andere Staaten bewegten sich auf einem etwas niedrigeren Niveau (Italien, Niederlande), eine weitere Gruppe war deutlicher abgesetzt (Spanien, Portugal).

Tabelle 73 nicht eingebunden

Die insgesamt bemerkenswerten Abstände zwischen den nationalen Arbeitsproduktivitäten der Mitgliedstaaten sind auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. So spielen etwa Unterschiede im Humankapital, in der Ausstattung der Arbeitnehmer mit Sachkapital, in der Innovationsfähigkeit der Länder, aber auch in der Produktpalette, welche die Unternehmen der einzelnen Volkswirtschaften mit Erfolg auf dem Weltmarkt anbieten, und in der Sektorstruktur eine Rolle. Weitere Faktoren wie die Infrastruktur, die Leistungsfähigkeit der Forschung und ihre Vernetzung mit dem Produktionsbereich, das Bildungswesen und das Steuersystem wirken sich auf die Arbeitsproduktivität eines Landes aus. So bedingte Unterschiede in den Arbeitsproduktivitäten sind in einem großen Wirtschaftsraum normal. Konvergenzstudien, die sich auf das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner beziehen, kommen zu dem Ergebnis, daß gegebene Unterschiede sich nur allmählich vermindern, und zwar zwischen den Regionen eines Landes bei ansonsten gleichen Umfeldbedingungen lediglich mit einer Rate von etwa 2 vH pro Jahr. Für die Länder der Währungsunion ist die Angleichungsrate niedriger (Ziffer 273). Deshalb, und auch weil die Ausgangsbedingungen für Wachstumsprozesse in den Euro-Teilnehmerländern ohnehin unterschiedlich sind, ist auf mittlere und längere Frist von Unterschieden im Niveau der Arbeitsproduktivitäten zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion auszugehen.

316. In den einzelnen Volkswirtschaften müssen die nationalen Arbeitskosten von den nationalen Produktivitäten getragen werden; dementsprechend ist ein anzustrebendes Vollbeschäftigungsgleichgewicht in der Währungsunion dadurch gekennzeichnet, daß die nationalen Arbeitskosten zwischen den Volkswirtschaften gemäß den Arbeitsproduktivitäten differenziert sein müssen.

Daß die nationalen Arbeitskosten im Niveau an der nationalen Produktivität zu orientieren sind, hat bei den derzeit gegebenen und auch in der Zukunft sich nur allmählich vermindernden Produktivitätsunterschieden eine Reihe von Konsequenzen, und zwar für die Lohnpolitik und auch für die Sozialpolitik. Eine wichtige Konsequenz ist, daß die Lohnpolitik nicht das Ziel anstreben darf, die Löhne - unter Mißachtung der unterschiedlichen Produktivitätsniveaus - zwischen den Volkswirtschaften der Währungsunion schnell aneinander anzupassen. Zwar werden die Arbeitnehmer in den einzelnen Ländern in Zukunft ihre Löhne in der einheitlichen Währung vergleichen. Geldillusion durch unterschiedliche nationale Währungen kann dann keine Rolle mehr spielen. Die Forderung "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" wird deshalb in der politischen Diskussion schnell zu hören sein. In dem Maße, in dem sich die Menschen an die einheitliche Rechnungseinheit Euro gewöhnt haben werden, wird dieses Begehren größeres Gewicht bekommen. Aber solche Vorstellungen gehen fehl. Die Arbeitslosigkeit würde dort ansteigen, wo das Lohnniveau höher liegt als das Produktivitätsniveau und wo Produktivitätsunterschiede von der Lohnpolitik nicht angemessen beachtet werden. Dies gilt besonders für die Aufholländer, also diejenigen Volkswirtschaften, deren Produktivitätsabstand derzeit besonders groß ist. Es ist wichtig, daß die Tarifvertragsparteien diese Zusammenhänge erkennen und ihnen nicht zuwiderhandeln.

317. Für eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik gilt auch in den Ländern der Währungsunion die vom Sachverständigenrat betonte Grundregel: Tarifanhebungen sind an der Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität zu orientieren; liegt jedoch in der Ausgangslage Arbeitslosigkeit vor, so kommt ein Aufbau von Beschäftigung nur dann zustande, wenn die Tarife um weniger angehoben werden als die Arbeitsproduktivität zunimmt.

Derzeit steht jedoch eine davon abweichende Strategie für die Tarifanhebungen in der öffentlichen Diskussion, nämlich in den Mitgliedstaaten der Währungsunion die Löhne selbst dann im Ausmaß des Produktivitätsanstiegs zu erhöhen, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist. Die Begründung lautet, daß es in der Währungsunion zu einer Lohnspirale nach unten kommen müsse, wenn ein Land durch eine moderate Lohnpolitik die Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen und seiner Arbeitsplätze verbessere und damit spiegelbildlich die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und Arbeitsplätze in den anderen Ländern zurückginge. Die anderen Länder müßten dann, so wird argumentiert, ebenfalls die Strategie der Lohnzurückhaltung einschlagen. Dieser Lohnsenkungswettbewerb sei besonders gravierend, wenn ein großes Land wie Deutschland über eine solche Strategie versuche, die Lage am eigenen Arbeitsmarkt zu verbessern. In diesem Prozeß werde die Binnennachfrage geschwächt, und dies wirke negativ auf Produktion und Beschäftigung in Europa.

Unbestritten ist, daß die Arbeitsplätze in der Währungsunion durch den intensiveren Wettbewerb auf den Gütermärkten, insbesondere durch die höhere Preis- und Kostentransparenz, im Wettbewerb stehen. Die These eines Lohnwettlaufs nach unten ist jedoch abwegig. Zunächst einmal: Es geht - um einen Rückgang der Arbeitslosigkeit zu erreichen - nicht um absolute Lohnsenkungen, sondern um Lohnmindersteigerungen, also um eine Zurücknahme des Lohnanstiegs im Vergleich zum (in der Vergangenheit jedenfalls) positiven Produktivitätsfortschritt. Vor allem aber: Wenn im Sinne einer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik, wie sie der Sachverständigenrat vorschlägt, die Lohnzurückhaltung in einem Land, also eine Lohnerhöhung unterhalb der Rate des Produktivitätsfortschritts, dazu beigetragen hat, daß sich dort wieder eine günstige Beschäftigungssituation einstellt, wird der Lohn danach im Ausmaß des Produktivitätsfortschritts steigen. Dafür sorgt der Wettbewerb der Unternehmen um die Arbeitskräfte. Aus diesen Überlegungen folgt, daß es - wenn durch Lohnzurückhaltung die nationalen Lohnniveaus mit den nationalen Arbeitsproduktivitäten im Einklang sind und eine günstige Beschäftigungssituation in einem Euro-Teilnehmerland erreicht ist - auch keinen Lohnwettbewerb mehr nach unten geben kann. Die Angst vor einem uferlosen Lohnwettbewerb nach unten krankt daran, daß versäumt wird, eine anzustrebende vollbeschäftigungsähnliche Situation für die Länder der Währungsunion zu definieren, bei der die nationalen Arbeitskosten von den Produktivitäten getragen werden. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß eine Verbesserung der Beschäftigungssituation in einem Mitgliedsland sich positiv auf Investitionen, Privaten Verbrauch und Importe auswirkt. Dies strahlt auf die anderen Länder des gemeinsamen Währungsraums aus.

Die Befürchtung eines Lohnwettbewerbs nach unten taucht auch im Gewand eines Abwertungswettlaufs bei den realen Wechselkursen auf. Richtig ist, daß innerhalb des Euro-Währungsraums reale Wechselkursänderungen stattfinden werden. Dies heißt, daß sich Relativpreise ändern, insbesondere die Preise der international handelbaren Güter relativ zu den nicht-handelbaren Gütern und die Preise der international mobilen relativ zu den immobilen Produktionsfaktoren (JG 95 Ziffer 444). Richtig ist auch, daß ein Land, das in eine Krise gerät, durch eine reale Abwertung wieder ein neues gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht - und zwar sowohl binnenwirtschaftlich wie außenwirtschaftlich - finden muß. Sobald dieses erreicht ist, gibt es jedoch keinen Grund mehr für reale Wechselkursänderungen. Aus der Notwendigkeit realer Wechselkursänderungen - also relativer Preisänderungen - läßt sich nicht folgern, daß es zu einem realen Abwertungswettlauf nach unten kommt. Relativpreisänderungen sind vielmehr ein wichtiges und normales Instrument der Anpassung bei einem güterwirtschaftlichen Ungleichgewicht in einer Volkswirtschaft.

318. Für Tariflohnanhebungen im Ausmaß des Produktivitätsanstiegs auch bei hoher Arbeitslosigkeit in den Ländern der Währungsunion wird ferner angeführt, daß über die höheren Löhne mehr Kaufkraft entstünde und daß damit die Binnennachfrage gestärkt werde. Eine Lohnzurückhaltung dagegen würde die gesamtwirtschaftliche Nachfrage schwächen, und zwar vor allem dann, wenn mehrere Länder der Währungsunion gleichzeitig Lohnzurückhaltung übten. Damit ließe sich aber mehr Beschäftigung nicht erreichen.

Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Eine höhere Nominallohnanhebung würde - für sich genommen - zunächst zwar ein höheres Nominaleinkommen mit sich bringen, aber nur für die bereits Beschäftigten; darüber hinaus berücksichtigt die Argumentation andere Wirkungsketten überhaupt nicht. Die Lohnerhöhung würde die Unternehmen als Kostensteigerung direkt treffen, während sich die zusätzliche Nachfrage aus dem höheren Nominaleinkommen, zudem nach Absickerverlusten, nur mittelbar bemerkbar machen würde: Eine moderate Lohnpolitik ist für die Unternehmen in den einzelnen Ländern ein Anreiz, auf mittlere Frist verstärkt Arbeitskräfte einzustellen; sie verbessert gleichzeitig die Bedingungen für die Investitionstätigkeit, was sich wiederum günstig auf die Beschäftigung auswirkt (Ziffer 424). Dies hat positive Effekte auf die anderen Länder.

Angesichts der Schwäche gerade bei den Ausrüstungsinvestitionen wichtiger kontinentaleuropäischer Länder - auch Deutschlands - in den neunziger Jahren kommt es für die Lohnpolitik darauf an, einen mittelfristig verläßlichen Kurs zu steuern, wenn die am aktuellen Rand zu verzeichnende Belebung der Investitionen nicht wieder erlahmen soll. Ein positiver Erwartungseffekt durch die Lohnpolitik setzt langen Atem und Beharrlichkeit voraus, wie es andere Länder - beispielsweise die Niederlande - vorgemacht haben. Wenn in den Ländern der Währungsunion eine solche beschäftigungsorientierte Lohnpolitik jetzt und in den nächsten Jahren mit Verläßlichkeit betrieben wird, so wird sich ein günstiges Klima für die Investitionen breitmachen, in dem Europa vielleicht wieder einmal ähnlich hohe Zuwachsraten der Ausrüstungsinvestitionen erreichen kann wie die Vereinigten Staaten. Indem über die verstärkte Kapitalbildung ein langandauernder Wachstumsprozeß in Gang kommt, wird dann auch die Beschäftigung in nennenswertem Ausmaß mitgezogen. Zu bedenken ist auch, daß die Mitgliedsländer der Währungsunion insgesamt durch Lohnzurückhaltung wettbewerbsfähiger bei ihren Exporten (und bei den Importsubstituten) werden; dies stimuliert die Exporte (also die gesamtwirtschaftliche Nachfrage) und die Beschäftigung, selbst wenn es durch die vermehrten Exporte zu einer Aufwertung des Euro kommen sollte (JG 96 Ziffer 316). Völlig verfehlt wäre es, die Furcht vor der Deflation zum wirtschaftspolitischen Ratgeber zu machen; dies ist im Euro-Währungsraum mit einer für das Jahr 1999 prognostizierten Zuwachsrate der gesamtwirtschaftlichen Produktion von knapp 2½ vH schwerlich angebracht.

Für größere Flexibilität sorgen

319. Die räumliche Differenzierung der Arbeitskosten im Einklang mit den nationalen Produktivitäten ist das eine zentrale Erfordernis für die Lohnpolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion. Das andere ist, daß die Arbeitsmärkte in den Mitgliedsländern flexibler werden müssen. Die Rolle des Wechselkurses, der bisher für die Bewältigung von Anpassungsprozessen eingesetzt werden konnte, müssen nun im Euro-Währungsraum die Relativpreise übernehmen, also die Preise für Güter, insbesondere zwischen den international handelbaren und den nicht-handelbaren Gütern, und die Preise der Produktionsfaktoren, insbesondere zwischen den international mobilen und den immobilen. Den Löhnen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Die relativen Preise müssen die Anpassung an ein neues Gleichgewicht steuern, wenn sich ein exogener Schock asymmetrisch in der Währungsunion auswirkt, also ein Angebotsschock wie etwa eine Ölkrise die erdölimportabhängigen Volkswirtschaften intensiver trifft als die anderen Volkswirtschaften oder das Vordringen der auf stärker arbeitsintensive Produkte spezialisierten Schwellenländer sich eher auf die Peripherie des gemeinsamen Währungsraums auswirkt als auf die Kernländer. Veränderungen der relativen Preise sind auch dann gefragt, wenn einige Länder auf einen wirtschaftlichen Schock, der sich für die Währungsunion insgesamt symmetrisch darstellt, flexibler reagieren als andere, beispielsweise in ihrer Lohnfindung, aber auch aufgrund der institutionellen Regelungen der Güter- und Arbeitsmärkte. Schließlich werden, wenn sich hausgemachte wirtschaftspolitische Probleme in dem einen oder anderen Land einstellen und verfestigen, etwa weil die Politik zu wenig Problemlösungskompetenz hat und schon deshalb notwendige Anpassungen an die neuen weltwirtschaftlichen Bedingungen unterbleiben, sogar gravierende Relativpreisänderungen notwendig, obwohl die Fähigkeit dazu in einer solchen Situation erheblich eingeschränkt sein mag.

Relative Preisänderungen in der Währungsunion werden aber auch deshalb eine größere Rolle spielen, weil sie die Aufgabe übernehmen müssen, die Wechselkursänderungen bisher beim sektoralen Strukturwandel erledigt haben. Wenn in der Vergangenheit im Verlaufe des wirtschaftlichen Wachstums Sektoren durch einen stärkeren Produktivitätsfortschritt, etwa durch Produktinnovationen, eine größere Wettbewerbsfähigkeit erlangt hatten, so wirkte dies auf eine Aufwertung der Währung hin, die zurückbleibenden Sektoren signalisierte, daß sich deren relative Position verschlechterte. Im Euro-Währungsraum muß dies künftig durch die Veränderung der Güterpreise zuwege gebracht werden, die entsprechend stärker ausfallen muß; je flexibler die Preise, auch die Faktorpreise sind, um so reibungsloser kann die Reallokation der Produktionsfaktoren bewerkstelligt werden, die zu mehr Wachstum und Beschäftigung führt.

Schließlich gewinnen relative Preisänderungen in der Währungsunion auch dann eine größere Bedeutung, wenn sich eine stärkere Spezialisierung im Raum einstellt. Ob sich die wirtschaftlichen Strukturen im gemeinsamen Währungsgebiet angleichen oder ausdifferenzieren werden, ist offen. Von einer Konvergenz hinsichtlich des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf kann man allerdings nicht auf ähnlicher werdende wirtschaftliche Strukturen schließen. Auch bei einer Zunahme des intraindustriellen Handels, die im Binnenmarkt zu erwarten ist, gibt es bei hinreichend differenzierter Betrachtung noch beachtliche vertikale Unterschiede in der Produktion und in der Produktpalette innerhalb eines Sektors, etwa zwischen den Ländern des Zentrums und der Peripherie. Schließlich zeigt ein Blick auf die Vereinigten Staaten, daß ein großes Währungsgebiet mit einer beachtlichen Spezialisierung der Produktion im Raum einhergehen kann. Dann wirkt sich ein sektoraler Strukturwandel räumlich stark unterschiedlich aus; dies erfordert eine starke Anpassung der Preise für Güter und Faktoren.

320. Das Erfordernis der Flexibilität bezieht sich zum einen auf die zügige Anpassungsfähigkeit der Preise, insbesondere der Arbeitskosten und - da die Kosten der sozialen Sicherungssysteme kurzfristig kaum variabel sind - vor allem der Löhne. Mehr Flexibilität der Arbeitsmärkte kann zum anderen auch dadurch erreicht werden, daß größere Spielräume beim Einsatz des Faktors Arbeit geschaffen werden. So kann bei Rezessionen eine Zeitflexibilität nach unten die Beschäftigung stabilisieren, auch wenn die Lohneinkommen zeitweise zurückgehen. Eine Flexibilität nach oben läßt die Betriebe mit den Schwankungen des Auftragseingangs atmen und führt, zusammen mit langfristig flexibleren Lösungen etwa in Form der Arbeitszeitmodelle, zu einem Anstieg der Arbeitsproduktivität. Dadurch ergeben sich bessere Chancen für mehr Beschäftigung und für höheres Einkommen der Arbeitnehmer. Teilweise erleichtert es eine größere Zeitflexibilität, mehr Kostenflexibilität herbeizuführen.

Eine größere Flexibilität der Arbeitsmärkte macht es notwendig, die sozialen Sicherungssysteme zu überdenken, insbesondere die mit diesen Systemen verbundenen Fehlanreize, die letzten Endes mit zur Arbeitslosigkeit beitragen. Der Sachverständigenrat hat dies in seinem Jahresgutachten 1996/97 thematisiert (Ziffern 376 ff.). Internationale Organisationen legen den europäischen Ländern die Behebung dieser Fehlanreize im Regelwerk für Arbeit deutlich nahe. So spricht sich der Internationale Währungsfonds für eine größere Flexibilität bei der Auflösung von Arbeitsverträgen und eine Überprüfung der Dauer und der Höhe der Leistungen für Arbeitslose aus.

321. Es wird geltend gemacht, daß das Erfordernis einer größeren Flexibilität zunächst einmal nur für andere Länder zu gelten scheint, da sich Deutschland in der Vergangenheit des Wechselkursinstruments nicht bedient hat, was zutrifft. Folglich hätte das Ansinnen nach mehr Flexibilität, soweit es auf die Währungsunion zurückgeführt wird, für Deutschland keine Bedeutung. Es ist jedoch zu bedenken, daß in Zukunft jedes Mitgliedsland im Euro-Währungsraum an den Kosten der Inflexibilität anderer Länder beteiligt werden wird. Von daher muß Deutschland ein Interesse daran haben, daß überall am Arbeitsmarkt soviel Flexibilität herrscht, wie zur Erreichung eines hohen Beschäftigungsstands jeweils gebraucht wird.

Zudem ist darauf hinzuweisen, daß andere Mitgliedsländer den Wechselkurs sehr wohl als Puffer eingesetzt haben, um Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beheben und um preisliche Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen, auch um über eine Abwertung übermäßige Lohnerhöhungen in ihrer negativen Auswirkung zu neutralisieren. Beispielsweise hatte sich in Italien durch einen stärkeren Lohn- und Preisanstieg im Bereich der international nicht-handelbaren Güter vor dem Jahr 1992 eine reale Aufwertung ergeben, die im Exportbereich zu einer Gewinnkompression und zu einem Rückgang der Investitionen, kurzum zu einem Ungleichgewicht in der Volkswirtschaft, führte, so daß letzten Endes nur eine kräftige nominale Abwertung übrig blieb. Auch in Spanien und Portugal mußte eine reale Aufwertung durch eine nominale Abwertung korrigiert werden. Da dieser Mechanismus im Euro-Währungsraum nicht mehr zur Verfügung stehen wird, müssen die Mitgliedstaaten der Währungsunion in Zukunft in ihrer Lohnpolitik zurückhaltender sein. Das werden sie tun, weil sie sich damit die Wettbewerbsfähigkeit bei den handelbaren Gütern sichern. Wegen der verstärkten Preis- und Kostentransparenz in der Währungsunion haben die deutschen Tarifvertragsparteien dies bei ihrer Lohnpolitik zu berücksichtigen.

Gegen eine Europäisierung der Lohn- und Sozialpolitik

322. Was die institutionelle Seite der Lohnfindung in der Europäischen Währungsunion betrifft, so sind derzeit die Lohnfindungsprozesse in den einzelnen Mitgliedsländern unterschiedlich gestaltet. In der Organisation der Tarifvertragsparteien bestehen zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede, das Koalitionsrecht ist national geregelt, und dementsprechend sind die Tarifvertragsparteien national organisiert. In dieser Ausgangslage zeichnen sich hier und da, auch in Deutschland, Bemühungen nationaler Gewerkschaften ab, in der Währungsunion zu einer gemeinsamen Ausrichtung für die Lohnpolitik zu kommen. Dabei geht es um eine Abstimmung bei einzelnen Aspekten der Manteltarifverträge wie den Laufzeiten der Tarifverträge oder um den Versuch tarifpolitischer Absprachen für grenznahe Tarifbezirke. Es handelt sich in allgemeiner Form auch um eine Annäherung in der Orientierung der Tarifpolitik, wie die derzeitig verfolgte Linie der Anhebung der Tariflöhne im Ausmaß des Produktivitätsfortschritts, unabhängig von der Höhe der Arbeitslosigkeit in den einzelnen Ländern, zeigt. Die Rede ist ebenfalls von der Herstellung eines Koordinierungsmechanismus, von einem konzertierten Vorgehen in der Tarifpolitik und von einer Europäisierung der Tarifpolitik. In den Ländern mit hohen Arbeitskosten mag dabei die Überlegung eine Rolle spielen, die Löhne anderer Länder nach oben ziehen zu können und auf diese Weise den nationalen Arbeitsmarkt von Wettbewerbsdruck zu entlasten.

Von Bestrebungen nach einer Europäisierung der Tarifpolitik ist nichts zu halten. Eine solche Tendenz würde eine Differenzierung der Löhne im Raum der Währungsunion erschweren und einer größeren Flexibilität in der Lohnstruktur entgegenwirken. Dies gilt sowohl für die notwendigen Abstände der Lohnniveaus bei divergierenden Produktivitätspegeln als auch für die erforderlichen Unterschiede der Anhebungsraten der Tarife bei unterschiedlichen Fortschrittsraten der Produktivitäten. Dies gilt aber auch, wenn andere Aspekte des Lohns wie Zusatzzahlungen vereinheitlicht würden oder andere Bereiche des Arbeitslebens tarifvertraglich harmonisiert würden, die - wie etwa die Arbeitszeit - kostenrelevant sind. Eine Europäisierungstendenz der Tarifpolitik ist dem Abbau der Arbeitslosigkeit in den Mitgliedstaaten der Währungsunion nicht dienlich. Sie könnte den unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Ländern nicht angemessen Rechnung tragen. Im Gegenteil: In Deutschland zum Beispiel sind eine Dezentralisierung der Tarifpolitik und eine Flexibilisierung des Flächentarifvertrags geboten (Ziffer 425). Es ist zu hoffen, daß die Unterschiedlichkeit in der Interessenlage der Arbeitnehmer in den Ländern der Währungsunion dazu beiträgt, daß eine allzu starke Europäisierungstendenz bei der Lohnpolitik vermieden wird. In den wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern werden die Tarifvertragsparteien nicht bereit sein, aus niedrigeren Arbeitskosten resultierende Wettbewerbsvorteile aus der Hand zu geben und damit Arbeitsplätze zu gefährden.

Der in Artikel 139 Abs. 1 EGV vorgesehene Dialog zwischen den Sozialpartnern sollte jedenfalls nicht zu dem Ergebnis führen, daß die institutionelle Vielfalt der Lohnfindungsprozesse verlorengeht, die europäischen Volkswirtschaften würden sonst unterschiedliche Erfahrungen, auch über beste Praktiken, wie man das Problem der Arbeitslosigkeit angehen kann, nicht sammeln können. Auch wäre es nicht möglich, die unterschiedlichen Ausgangslagen in den Mitgliedsländern angemessen zu berücksichtigen. Einer Harmonisierung des Arbeitsentgelts wie auch anderer wichtiger institutioneller Regelungen durch Organe der Europäischen Union wie Koalitionsrecht, Streikrecht und Aussperrungsrecht steht Artikel 137 Abs. 6 EGV entgegen. Dabei muß es bleiben.

323. Die Sozialpolitik hat maßgeblichen Einfluß auf die Höhe der Arbeitskosten, insbesondere durch die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung. Da in den Mitgliedsländern der Währungsunion die nationalen Arbeitskosten an den nationalen Produktivitäten auszurichten sind, haben die Unterschiede in den nationalen Produktivitäten für die Sozialpolitik eine unumstößliche Konsequenz: Die Arbeitsproduktivität muß die Arbeitskosten insgesamt abdecken, also auch die Kosten der sozialen Sicherung. Prinzipiell sollte es den Mitgliedstaaten der Währungsunion überlassen bleiben, ob sie einem höheren Barlohn oder mehr sozialer Sicherung Vorrang einräumen. Jedes Land hat das Problem, ein bestimmtes Niveau an sozialen Leistungen zu finanzieren. Leistungsumfang und Finanzierung müssen gedeckt sein durch die Produktivität. Angesichts der divergierenden Arbeitsproduktivitäten kann eine Harmonisierung der Leistungen nicht in Betracht kommen. Wer in der Europäischen Union unter den gegebenen Bedingungen die Sozialunion forciert, läuft Gefahr, damit mehr Arbeitslosigkeit hervorzurufen.

Auch von Mindeststandards der Systeme sozialer Sicherung ist zu erwarten, daß sich die Arbeitslosigkeit dort verschärft, wo der Mindeststandard bindet, in der Regel wohl dort, wo die Arbeitslosigkeit jetzt schon hoch ist. Außerdem ist damit zu rechnen, daß sich Mindeststandards an den Normen des Landes mit der für die Arbeitnehmer auf den ersten Blick günstigsten Regelung orientieren, mindestens aber am Durchschnitt. Arbeitsplätze würden vernichtet, wenn der Barlohn nicht entsprechend nach unten angepaßt würde.

324. Eine Harmonisierung von institutionellen Vorschriften, die die Arbeitskosten beeinflussen, kann im Rahmen des Sozialkapitels ihre eigene Dynamik entfalten, nachdem die bisher im Sozialprotokoll des Vertrags von Maastricht enthaltenen Regelungen durch die Vereinbarung von Amsterdam (nach der Zustimmung des Vereinigten Königreichs) in den EG-Vertrag integriert sind. Zwar erfordern Entscheidungen in einer Reihe wichtiger Bereiche Einstimmigkeit, so bei der sozialen Sicherung und der Beendigung des Arbeitsvertrags (Artikel 137 Abs. 3 EGV), in anderen Gebieten wie bei den Arbeitsbedingungen (Artikel 137 Abs. 1 EGV) können aber mit qualifizierter Mehrheit des Rates Richtlinien über Mindestvorschriften eingeführt werden, die in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Ein Beispiel ist die EU-weite Obergrenze für die maximal zulässige wöchentliche Arbeitszeit, wie sie in der Richtlinie von 1993 festgelegt ist. Sieht man von Regelungen für den Arbeitsschutz im engeren Sinn und für die Gesundheit der Arbeitnehmer ab, so darf durch solche Harmonisierungsbestrebungen den einzelnen Volkswirtschaften Flexibilitätsspielraum nicht genommen werden. Es ist hinreichend, daß solche Bereiche von den nationalen Regierungen geregelt werden. Nicht jeder Aspekt des Arbeitslebens in Europa muß harmonisiert sein. Man darf einen institutionellen Wettbewerb zur Entdeckung neuer Lösungen nicht einschränken, ja man sollte auf ihn setzen.

Ähnliches gilt für die rechtliche Harmonisierung inhaltlicher Aspekte der Lohnfindung durch die Europäische Union, so für eine mehr oder weniger EU-weite Einführung eines einheitlichen Mindestlohns. Denn wäre ein solcher Mindestlohn in einzelnen Ländern der Währungsunion effektiv, würde er also binden, so würde die Arbeitslosigkeit dort steigen. Auch hier sollte für die Mitgliedsländer ein möglichst großer Spielraum gelassen werden, so daß die Löhne dezentral bestimmt werden können.

325. Bei der Beschäftigungspolitik können durch das neu in den Amsterdamer Vertrag eingeführte Beschäftigungskapitel gravierende Fehlentwicklungen angelegt sein. Vorgesehen ist folgendes: Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft wollen auf eine koordinierte Beschäftigungsstrategie hinarbeiten (Artikel 125 EGV), die Mitgliedstaaten wollen die Förderung der Beschäftigung als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse betrachten (Artikel 126 EGV), die Gemeinschaft soll die Zusammenarbeit zwischen den Ländern fördern und deren Maßnahmen unterstützen und ergänzen und so zu einem höheren Beschäftigungsniveau beitragen (Artikel 127 EGV), der Europäische Rat legt mit qualifizierter Mehrheit Leitlinien fest, welche die Mitgliedstaaten in ihrer Beschäftigungspolitik berücksichtigen (Artikel 128 EGV). Die nationalen Regierungen erstellen regelmäßig Aktionspläne, in denen sie die auf EU-Ebene beschlossenen Leitlinien umsetzen (Ziffern 67 ff.). Die Rede ist auch von einem koordinierten makroökonomischen Rahmen, von einem Bündnis für Wachstum und Beschäftigung und von einer EU-Beschäftigungspolitik. Die neue Bundesregierung verfolgt das Ziel, einen europäischen Beschäftigungspakt zustandezubringen.

Diese genannten Ansatzpunkte beziehen sich auf sehr verschiedene Elemente einer stärker europäisch orientierten Beschäftigungspolitik. Soweit es bei einer Koordinierung um einen Erfahrungsaustausch über die Entwicklung am Arbeitsmarkt in den einzelnen Ländern und über die Wirkung beschäftigungspolitisch verfolgter Ansätze geht oder auch darum, sich auf essentielle Grundregeln zu verständigen, etwa darauf, wie die Zuordnung der Verantwortlichkeiten für mehr Beschäftigung zu gestalten ist, läßt sich gegen eine solche Bemühung nichts einwenden (JG 97 Ziffer 417). Eine darüber hinausgehende Koordinierung, vor allem aber aktionistisch-interventionistische Ansätze, sei es nationaler Regierungen oder sei es der Europäischen Kommission, sind jedoch mit großer Skepsis zu betrachten.

- Das Problem der Arbeitslosigkeit muß dezentral gelöst werden, und zwar dort, wo das Angebot an Arbeitskräften und die Nachfrage nach Arbeitskräften zum Ausgleich gebracht werden können, nämlich auf den Märkten in den Regionen und in den einzelnen Volkswirtschaften, nicht aber auf der EU-Ebene. In der Führungsrolle sind dabei die Tarifvertragsparteien. Auch die unterschiedliche Erfahrung mit Ansätzen zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit zeigt, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegen muß. Zu warnen ist vor der Vorstellung, das Problem der Arbeitslosigkeit ließe sich an einem europäischen runden Tisch mit einem Beschäftigungspakt lösen. Auf europäischer Ebene können Arbeitgeberverbände genauso wenig verbindliche Zusagen über Arbeitsplätze geben wie auf nationaler Ebene, ja noch weniger. Daran kann auch die Mitwirkung der Europäischen Kommission und die nationaler Regierungen an einer Gesprächsrunde nichts ändern. Daß die einzelnen Länder für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich sind, folgt aus dem Subsidiaritätsprinzip. Mit Recht betont der Amsterdamer Vertrag in Artikel 127 Abs. 1 die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Beschäftigung.

- Man muß die Gefahr sehen, daß ein europäischer runder Tisch unter dem Stichwort der Koordinierung zu einer gravierenden Verwischung der Verantwortlichkeiten führt, und zwar dann, wenn die Bemühungen um Koordinierung darauf hinauslaufen, daß die Verantwortung für die Beschäftigung der europäischen Ebene zugeschoben wird und daß Fehler der Lohnpolitik und die Fehlsteuerung des institutionellen Regelwerkes für Arbeit vor allem in den drei großen kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften durch eine Koordinierung und durch Beschäftigungsprogramme übertüncht werden sollen.

- Die Leistungsfähigkeit einer aktiven Beschäftigungspolitk im Sinne arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen sollte ohnehin nicht überschätzt werden; staatliche Programme können allenfalls die Anpassungsprozesse am Arbeitsmarkt abfedern. Großangelegte Beschäftigungsprogramme oder Beschäftigungssubventionen gehen mit beachtlichen Mitnahmeeffekten und mit Verdrängungseffekten einher, sie kosten zudem viel Geld. Wenn auch das Bild über die Leistungsfähigkeit von Beschäftigungsprogrammen in der arbeitsmarktökonomischen Literatur nicht einheitlich ist, deutet eine nicht unerhebliche Anzahl von Studien darauf hin, daß die Effizienz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen nicht überschätzt werden sollte (Ziffer 432). Zudem können Beschäftigungsprogramme zu bedenklichen Fehlanreizen führen, da die Tarifvertragsparteien davon ausgehen können, daß die Politik einen Teil ihrer Verantwortlichkeit für die Beschäftigung übernommen hat. Bedenkt man die gravierenden Abstände zwischen den nationalen Arbeitsproduktivitäten, so kann eine explizite Beschäftigungspolitik, ob nun auf der europäischen oder auf der nationalen Ebene, diese Unterschiede nicht ungeschehen machen und sie auch nicht überspielen.

- Gemäß Koalitionsvereinbarung sollen in den beschäftigungspolitischen Leitlinien verbindliche und nachprüfbare Ziele vor allem zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit festgeschrieben werden. Der Sachverständigenrat hat vor solchen quantitativen Vorgaben nachdrücklich gewarnt (JG 97 Ziffer 362). Zahlenmäßige Zielangaben, die im nationalen Rahmen gescheitert sind, eignen sich auf der europäischen Ebene noch weniger. Sie erwecken den Eindruck, daß von Regierungen eine gute Beschäftigungslage mit relativ einfachen Mitteln herbeizuführen sei und schaffen Erwartungen, die dann doch nicht erfüllt werden können. Die Vorstellung von der einfachen Machbarkeit einer guten Beschäftigungslage bringt allzu leicht im Gefolge einen Aktionismus und Interventionismus mit sich, der an den Kern des Problems der Arbeitslosigkeit nicht herankommt, sondern weiter davon wegführt.

326. Die Tarifvertragsparteien sollten in der Europäischen Währungsunion weder davon ausgehen, daß ihre Verantwortlichkeit für die Beschäftigung durch eine Verlagerung der Beschäftigungspolitik auf die europäische Ebene geringer wird, noch sollten sie erwarten, daß die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank tarifpolitisches Fehlverhalten monetär im nachhinein heilen kann. Durch die Vergemeinschaftung der Geldpolitik gibt es mit der neuen Geldordnung für Europa eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten, bei der die nationale Lohnpolitik in der Führungsrolle und in der Verantwortung ist, wenn es um die Beschäftigung geht.